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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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eine hilflose Gebärde. Seine leicht gebeugte Silhouette, dahinter der zartgelbe Schimmer, der über den Schnee streicht und sich in den Zweigen der Hecke verfängt: Es ist genau derselbe Anblick, der sich dem Lemming auch in der Christnacht geboten hat. Ein flüchtiges Bild nur, und doch einer jener Momente, in denen die Schöpfung bereit ist, sich dem Geschöpf zu offenbaren. In denen der Mensch eine Chance auf Erkenntnis erhält. Zum Beispiel auf die Einsicht, dass sich die Dinge fortwährend im Kreis drehen. Dass eine Sprosse im Laufrad, die man bereits überwunden glaubt, zwangsläufig wiederkehrt: morgen vielleicht oder auch in zehn Jahren. Ja, er könnte begreifen, wenn er nur wollte, der Mensch. Aber er will nicht. Aus unerfindlichen Gründen ist es ihm lieber, ziellos von sich fort zu schreiten, als sich irgendwann selbst zu begegnen.
    Und so weigert sich jetzt auch der Lemming, das gnostische Lehrstück gebührend zu würdigen. Stattdessen bedeutet er Lehner, weiterzugehen. Im Gänsemarsch schleichen die zwei um die Ecke, um sich – mit aller gebotenen Vorsicht – dem nächstgelegenen Fenster zu nähern und durch die Scheibe ins Innere zu spähen.
    Nichts scheint verändert in Angelas Zimmer. Ja, es wirkt fast so, als wollte die Vergangenheit gar nicht mehr aufhören, sich als Gegenwart zu kostümieren: der warme Schein der Stehlampe. Die schweren, rötlichen Holzmöbel. Der Ofen, die Bücher, die Teppiche   … Bis hin zu Angelas Bett stimmt das biedermeierliche Idyll mit jenem vom Freitag überein. Genauer gesagt: bis hin zu der regungslosen Gestalt, die dort zwischen den buntgemusterten Zierkissen liegt   …
    «Scheiße!», stoßen Lehner und der Lemming unisono hervor, einer so bleich, so entsetzt wie der andere. Schon hebt der Lemming seine Taschenlampe, um das Glas einzuschlagen, als ihn Lehner zurückhält, ihn mit sanfter Gewalt ein Stück weiter zieht – zu jenem Fenster, das der Lemming schon beim letzten Mal zerstört hat. Es ist nach wie vor provisorisch mit Plastikfolie verkleidet: ein Geschenk für zwei knallharte Profis, die in ein Leichenhaus einsteigen wollen.
    Keine halbe Minute vergeht, bis die beiden ans Bett treten und auf das schmale, zerknitterte Antlitz von Angelas Mutter starren. Friedlich sieht sie aus, die Anna Smejkal. Wenn auch auf eine andere Weise friedlich als ihre Tochter, drei Tage davor. Die zarte, von winzigen Runzeln umfältelte Haut ihrer Augenlider wirkt kindlich, ja regelrecht embryonal, auch ihre Körperhaltung gleicht der eines ungeborenen Kindes: zusammengekrümmt, die abgewinkelten Arme eng an die Brust gezogen, als hüte sie einen ganz persönlichen Schatz. Im Gegensatz zu Angela, die im Tod auf eine würdevolle, reife, auf eine gleichsam erwachsene Art zufrieden wirkte, im Gegensatz zur Tochter also macht die Mutter einen fastschon infantilen Eindruck: weniger ans Ziel gekommen als an den Anfang zurückgekehrt. Der Friede hat eben viele Gesichter, und eins davon trägt einen unbedarft lächelnden, zahnlosen Mund.
    Die Zähne, die zu diesem Mund gehören, sind nur eine Armlänge entfernt. Sie schwimmen in einem mit Wasser gefüllten Glas auf dem Nachttisch. Leer dagegen ist die Schale, die daneben steht: das milchige Weiß der Glasur ist mit schwarzbraunen Schlieren verklebt – dem bittersüßen Geruch nach mit Resten von Trinkschokolade.
    «Scheiße», sagt der Lemming noch einmal. Er runzelt die Stirn und beugt sich zur Toten hinunter. Mustert die fleckigen, faltigen, fest ineinandergekrallten Hände. Behutsam betastet er sie, versucht, den Klammergriff zu lösen.
    «Was tun Sie denn da?», zischt Frank Lehner hinter seinem Rücken.
    Der Lemming antwortet nicht. Er zupft und zerrt an den knochigen Fingern, richtet sich dann wieder auf und betrachtet den Schatz, den er der alten Frau entwunden hat: den ganz persönlichen Schatz Anna Smejkals. Es ist das Foto aus Klaras Erzählung, das Foto von Mutter und Sohn, von Engel und Putte, das Foto von Angela und Benjamin Lehner.
    «Zeigen Sie mal   …» Frank Lehner kommt näher, streckt seine Hand aus – und fährt in derselben Sekunde erschrocken herum. Durch die Tür, die zum Flur führt, sind Schritte zu hören, schlurfende, müde sich nähernde Schritte. Lehner steht nun da wie angewurzelt – ganz im Gegensatz zum Lemming, der es gerade noch schafft, sich hinter dem Bett zu verbergen, als auch schon die Klinke gedrückt, die Tür geöffnet wird.
    Ein kurzer Moment vollkommener Stille, gleich darauf die

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