Lena Christ - die Glueckssucherin
Überflüssigen bilden ein überraschendes Pendant zu Franziska zu Reventlows autobiografischem Roman Ellen Olestjerne , der neun Jahre zuvor erschienen war. Beide Frauen wollten sich vom Ballast ihrer Kindheit und Jugend befreien. In beiden Werken spielt die schreckliche, monströse Mutter eine Hauptrolle. Sie greift nicht nur zu drastischen Erziehungsmethoden, wenn ihre Tochter ungehorsam ist, sondern scheint beständig auf der Suche nach Anlässen zu sein, ihre Aggressionen an ihr auszulassen. Die Mütter im Fin de Siècle – egal, welcher Gesellschaftsschicht sie angehörten – hatten mit ihren begabten, aufbegehrenden Töchtern große Probleme, denen sie nicht gewachsen waren.
»Geliebt hat mich meine Mutter nie; denn sie hat mich weder je geküsst noch mir irgendeine Zärtlichkeit erwiesen; jetzt aber, seit der Geburt ihres ersten ehelichen Kindes, behandelte sie mich mit offenbarem Hass. Jede, auch die geringste Verfehlung wurde mit Prügeln und Hungerkuren bestraft, und es gab Tage, wo ich vor Schmerzen mich kaum rühren konnte«, berichtet Lena Christ in den Erinnerungen . Ein körperlich zärtlicher Umgang – Küsse, Liebkosungen – zwischen Erwachsenen und Kindern war damals weder auf dem Land noch in der Stadt üblich. Auch die Großeltern scheuten sich, ihr Enkelkind zu liebkosen. Der Großvater nahm Lena zwar manchmal bei der Hand, setzte sie auf seinen Schoß, strich ihr übers Haar, klopfte ihr aufmunternd auf den Bauch – aber das war auch schon alles. Seine Zuneigung und die der Großmutter äußerte sich subtil: in kleinen Geschenken, einer besonders leckeren Speise oder einem liebevollen Wort. Nicht einmal dazu scheint Lenas Mutter fähig gewesen zu sein. Als sie ihre kleine Tochter zum ersten Mal nach langer Zeit in Glonn wiedersah, fand sie dafür nur die Bemerkung: »Bist auch da!«
9 Die Mutter Magdalena Isaak, geb. Pichler, 1895
»Ich habe Ihnen unser Verhältnis durchaus nicht übertrieben, was Mutterliebe ist, weiß ich kaum; ich habe sie fast nie gefühlt, nur Kälte. Im höchsten Fall ist es eine gleichgültige Freundlichkeit, die Uneingeweihte vielleicht täuschen kann«, vertraute die heranwachsende Franziska zu Reventlow ihrem Jugendfreund an. Sie fühlte sich verfolgt von mütterlichen »Feuerblicken«, die Strafen verhießen, oder von »Abscheu-Blicken«, die sie zu vernichten drohten. Es graute ihr vor der eisigen Stimmung, die herrschte, sobald sie mit der Mutter allein im Zimmer war. In Ellen Olestjerne heißt es: »Das Kind fühlte sich wie geborgen, wenn es nur dem Bereich der Mutter entfliehen konnte – mit Mama war es beständig, als ob man auf Eiern tanzte, jeden Augenblick ging eins kaputt.«
»Das Drama eines begabten Kindes« könnte der Untertitel beider autobiografischen Werke lauten: Im Vordergrund stehen die seelische Notlage eines eigenwilligen Mädchens und die Fluchtlinien, die sie zu ihrer Befreiung kreiert. Beide Autorinnen erleben die Konfrontation mit der Mutter als Umerziehungs- oder sogar Vernichtungsprozess, bei dem alles, was sie an Talenten, Fähigkeiten und Sehnsüchten mitbringen, erstickt werden soll. Da ging es der jungen Komtess zu Reventlow aus dem Schloss vor Husum nicht besser als der unehelich geborenen Leni aus dem Hansschusterhaus in Glonn.
In beiden Fällen prallten zwei unterschiedliche Lebenseinstellungen aufeinander: Während die Töchter etwas Besonderes sein wollten, war dieser Begriff für ihre Mütter negativ besetzt. Das Besondere war die Ausnahme und konnte daher leicht zum Makel werden. Lena Christs Mutter hatte das früh erfahren, als sie schwanger wurde und ein uneheliches Kind bekam. Es stand ihrem Ziel einer gutbürgerlichen Existenz im Weg. Magdalena Pichler war das vierte Kind von Mathias und Anna Pichler. Sie kam entweder am 30. Dezember 1859 oder am 1. Januar 1860 zur Welt. Die Angaben im Taufbuch und im Familienstandsbogen der Gemeinde weichen voneinander ab. Sie wuchs auf in einer Atmosphäre des Aufbruchs. In ihrem Heimatort wurden neue Gewerbebetriebe gegründet, darunter neun Gastwirtschaften. Das muss sie stark beeindruckt und den Wunsch hervorgerufen haben, selbst einmal Wirtin zu werden. Als Häuslerkind standen ihre Chancen in Glonn nicht gut, also fasste sie früh den Entschluss, nach München zu gehen. Üblich war es, dass ein Kind aus ihrer sozialen Schicht nach der Schulzeit bei einem Bauern »diente«, also niedrige Tätigkeiten verrichtete und mit freier Kost entlohnt wurde. Doch dabei konnte ein
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