Lena Christ - die Glueckssucherin
einem fremden Gegenstand getan? Hast du Tieren zugesehen, wenn sie Unreines taten? Hast du Knaben angesehen oder berührt an einem Körperteil?« Die inquisitorischen Suggestivfragen machten Lena Angst. Sie schämte sich nicht nur, sondern war über die Fantasien des Religionslehrers erschrocken – es waren Dinge, von denen sie bisher noch nie gehört hatte. Gerade ihre Naivität schien ihm zu gefallen, denn er suchte ihre Nähe, lud sie immer häufiger ein, ihn zu besuchen. Als Vorwand dienten ihm gewisse Botendienste. Wenn sie bei ihm war, fragte er immer mehr und direkter nach dem, was er unter dem Oberbegriff »Unkeusches« zusammenfasste. Es blieb nicht aus, dass sie sich mit ihren Mitschülerinnen darüber unterhielt. Doch war sie vollkommen überrascht, als ein Lehrer ihr eines Tages vorwarf, sie habe »in Gemeinschaft mit andern Mädchen unsittliche Handlungen vollführt« und werde daher – genau wie die anderen – mit Karzer bestraft.
Weit mehr als den Karzer fürchtete Lena, was sie zu Hause erwartete. Sie lief eine Weile ziellos durch die Stadt und machte auf einer Bank an der Isar Rast. Sie überlegte ernsthaft, ob sie sich nicht durch einen Sprung ins Wasser ein für allemal vor den sadistischen Übergriffen der Mutter retten sollte. »Am End aber siegte doch die Schneid«, resümierte sie, »und ich stand auf und ging ins Haus.« Bevor sie an der Wohnungstür läutete, betete sie darum, nicht umgebracht, nicht erschlagen zu werden. Beinahe vergebens. Diesmal übertraf die Grausamkeit der Bestrafung alles bisher Erlebte. Es war nicht nur die Gewalt, die Wucht, mit der die Mutter auf sie einschlug. Auch Lenas Schamgefühl wurde zutiefst verletzt: Sie musste sich nackt ausziehen, damit »der Körperteil, mit dem sie gesündigt hatte«, ins Zentrum der Tortur gerückt werden konnte. Um ihre Schreie zu ersticken, stopfte ihr die Mutter ein Tuch in den Mund. In Rage habe die Mutter nicht mehr aufhören können zu schlagen und zu treten. Schaum sei ihr vor dem Mund gestanden, während sie schrie: »Hin muaßt sein! Verrecka mußt ma! Wart, dir hilf i!« Danach habe sie den Stiefvater geholt und dazu getrieben, die Züchtigung fortzusetzen. Anschließend gingen beide Eltern fort.
Der brutale Akt war im Haus nicht unbemerkt geblieben. Die über ihnen wohnende Nachbarin kümmerte sich um das verletzte, allein gelassene Kind. Weil es eingesperrt war und nicht selbst öffnen konnte, ließ sie die Wohnungstür vom Schlosser aufsperren. Sie fand Lena in erbarmungswürdigem Zustand: blau geschlagen und blutend. Es war für sie unfassbar, wie man ein Kind so quälen konnte, deshalb nahm sie sich seiner an und fuhr noch am selben Abend mit Lena nach Glonn.
Als sie am Hansschusterhaus ankamen, war es bereits Nacht. Die Großeltern schliefen schon, sodass Lena lange und laut rufen musste, damit sie die Tür öffneten. Der Großvater war erstaunt über den späten Besuch, und die Nachbarin erklärte, was geschehen war. Erst als die Großmutter das Kind ausgezogen hatte, wurde das Ausmaß ihrer Verletzungen sichtbar. Während sie die Wunden versorgte, stieg im Großvater eine unbändige Wut hoch. Für ihn gab es keinen Grund, ein Kind auf diese Weise zuzurichten, egal was es getan haben mochte. Am nächsten Morgen zog er »sein Feiertagsgewand« an und machte sich reisefertig. Als Lena ihm den Grund für ihre Bestrafung nannte, steigerte das seinen Zorn nur noch: »Dös is gleich! So was redn alle Kinder amal; dös tuat a jeds Kind amal«, lautete sein lapidarer Kommentar, bevor er zum Zug ging.
Lena erfuhr nie, wie der Großvater die Mutter zur Rede gestellt, wie sie sich verteidigt hatte und was überhaupt bei seinem Besuch geschehen war. Er kam zurück und sprach, »wie das so seine Art war, mit keinem Wort mehr von der Sache«. Doch das Ergebnis war ein Erfolg: Sie musste nicht mehr zurück nach München, sondern durfte bei den Großeltern bleiben. Es wurde ein ganzes Jahr daraus.
Vermutlich hatte der Großvater seiner Tochter mit Anzeige gedroht. Da die Nachbarin Zeugin des Vorfalls war, konnte Magdalena Isaak ihre Tat nicht bagatellisieren. Sie hatte auf ihren guten Ruf zu achten, davon hing der Erfolg der Gaststätte und damit die Zukunft der ganzen Familie ab. Dafür nahm sie in Kauf, dass sie für die Arbeit, die ihre Tochter geleistet hatte, jemanden einstellen musste.
Nun brach eine Zeit an, in der Lena unbeschwert an ihre frühe Kindheit anknüpfen konnte: Sie war dort, wo sie sich am wohlsten fühlte,
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