Lena Christ - die Glueckssucherin
weil sie geliebt wurde, Geborgenheit und Freiheit verspürte. Das Glück hatte sie also nicht verlassen. Dieses Jahr war eines der wichtigsten in ihrem Leben, denn sie lernte, dass nichts endgültig war, weder die Zeit des Glücks noch die Zeit des Leids. In München hatte sie zum Schluss die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder aus der erniedrigenden Zwangsgemeinschaft herauszukommen. Das Versprechen, das ihr der Großvater gegeben hatte, sie könne wieder zu ihm kommen, wenn es ihr sehr schlecht ginge, war immer mehr verblasst. Doch nun war es eingelöst worden. Lena lebte in diesen Monaten regelrecht auf.
Der Titel der davon inspirierten Lausdirndlgeschichte klingt wie ein fröhlicher Triumph : Ich bin wieder da.
Mit kurzen, sicheren Strichen skizziert sie das, was ihr im Jahr 1892 widerfahren ist:
»Meine Mutter hat mir oft gesagt, dass sie für das beste hält: Dreimal im Tag Prügel und einmal was zu Essen.
Aber ich habe oft gleich fünfmal Prügel gekriegt und gar nichts zu Essen.
Aber das macht nichts.
Dafür hat mich Frau Baumeister wieder zu meinen Großeltern.
Da gibt es fünfmal was zu Essen und gar keine Prügel.
Das ist fein.
Da ist es mir furchtbar gut gegangen.«
Die Rückverwandlung vom verstockten, mürrischen Stadtkind zum ausgelassenen Lausdirndl ging blitzschnell. Lena tauchte wieder tief in das Landleben ein, besuchte die Nachbarn, hatte ihre Augen und Ohren überall. Damals spielten die Nachbarschaften und der Austausch zwischen den Generationen eine weit wichtigere Rolle im gesellschaftlichen Leben eines Dorfes als heute. Man saß nebeneinander auf der Bank vorm Haus und erzählte sich Neuigkeiten. Lena zog es oft zur alten Sailerin, von der es in den Lausdirndlgeschichten heißt, sie könne wahrsagen. Sie ist als literarische Figur mehrfach im Werk zu finden, genau wie die fantastischen Geschichten, die sie erzählt hat oder zu denen die Schriftstellerin von ihr angeregt wurde. Auf dem Land lebte man eng mit dem Übernatürlichen und den sogenannten Unter- oder Zwischenwelten zusammen, deren Wesen – zum Beispiel der Teufel »in Gestalt eines fürnehm gekleideten Herren« – sich manchmal in den Alltag der Menschen einmischten. Meistens in der Rolle des Verführers, des Unglücksboten oder Unheilsverkünders. In Gestalt eines Beschützers erschienen sie niemals. Diese Funktion war der Kirche vorbehalten. Lena war in ihrem geschenkten Jahr in Glonn die treueste Zuhörerin der alten weisen Frau: »Atemlos lauschte ich stets diesen Erzählungen und bekam nach und nach eine große Hochachtung vor der alten Sailerin«, berichtet sie. Die Mischung aus Spannung, Grusel und Geborgenheit zog sie an. »Da konnte ich denn, als das warme Frühjahr wiedergekommen, oft stundenlang bei ihr auf der Hausbank sitzen, wo sie den ganzen Tag über die Vorübergehenden prüfend betrachtete und mit sich selber lange Gespräche führte, während ihre Hände unablässig an einem ungeheuern Strumpfe strickten.« Die Geschichten der alten Sailerin, die Heilkunst der Großmutter, kombiniert mit Lenas Fantasie, ihrem feinem Gespür und ihrer Hochsensibilität, bildeten eine Grundlage für ihr späteres literarisches Schaffen. Zugleich bewirkten sie eine große Empfänglichkeit für Prophezeiungen aller Art.
Betrachtet man parallel zu Lenas Glück, das ihr nach der Zeit der mütterlichen Torturen unerwartet zuteilwurde, die Entwicklung innerhalb ihrer Münchner Familie, so nahm dort eine Pechsträhne ihren Lauf: Ihr Stiefvater war einem Schwindler auf den Leim gegangen und hatte das gesamte Geld verloren, das für den Neubau des Hauses in der Buttermelcherstraße vorgesehen war. Es handelte sich um eine Summe von etwa 30 000 Mark. Um für den Unterhalt der Familie zu sorgen, arbeitete er in der Flaschenabfüllung einer Münchner Brauerei. Als diese ihm die Pacht einer Kantine im Lechfeld bei Augsburg anbot, sagte er zu. Während dieser schweren Phase bekam die Mutter einen zweiten Sohn. Weil sie ihren Mann tatkräftig unterstützen musste, nahm sie nur ihren ältesten Sohn mit an den neuen Arbeitsplatz und gab den kleinen Friedrich nach Glonn in Pflege. Der erlittene finanzielle Verlust scheint den Ehrgeiz des ohnehin fleißigen Ehepaars Isaak noch angestachelt zu haben. Sie ließen sich einfach nicht unterkriegen, die Sicherung ihrer materiellen Existenz hatte stets die Priorität in ihrem Leben. So gelang es ihnen, nach erstaunlich kurzer Zeit, wieder auf die Beine zu kommen und in München eine neue
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