Lena Christ - die Glueckssucherin
Mutter zugrunde gerichtet würde. Dann setzten sich die beiden Trauernden auf den frischen Grabhügel und weinten miteinander. Die Großmutter schilderte ihrer Enkelin die letzten Tage des Sterbenden und versicherte, seine größte Sorge habe Lena gegolten und was aus ihr nach seinem Tod werden würde. Vor Erschöpfung schlief Lena, an die Großmutter gelehnt, ein. Erst von der Stimme des Pfarrers, der auch noch einmal auf den Friedhof gekommen war, wurde sie geweckt.
Anschließend gingen die beiden wieder zum Hansschusterhaus, in das schon der neue Besitzer, Josef Gröbmayr, mit seiner Familie eingezogen war. Seine Frau fragte, ob die Großmutter etwas vergessen habe, doch diese verneinte. Sie hatte einfach nicht gewusst, wohin. Früher musste sie nie überlegen, zu wem sie sich flüchtete, wenn es ihr schlecht ging. Jetzt war das Hansschusterhaus für sie verloren. Ihr Mann war gestorben und der Ort, an dem sie mit ihm glücklich gewesen war, versperrt. Doch der Abschied sollte nicht endgültig sein: Die Großmutter fand dort in den nächsten Jahren immer wieder für einige Zeit Unterschlupf, wenn sie vor der »rohen Behandlung« ihrer Stieftochter aus Haslach geflohen war. Der älteste Sohn der Familie Gröbmayr, der damals fünf Jahre alt war, erinnerte sich als Erwachsener noch schwach an die alte Frau, die »still und bescheiden in der Ofenecke das Mus für die Kinder rührte und sich auch sonst nützlich zu machen verstand, wo es das Hauswesen verlangte.«
Mit Bitterkeit hat Lena Christ das traurige Ende ihrer Großmutter geschildert. Ihre Stieftochter, Lenas Tante Nanni, die anscheinend gehofft hatte, die alte Frau würde den Tod ihres Mannes nicht lange überleben, behandelte sie schlecht. Als die anderen Stiefkinder davon erfuhren, witterten sie ihre Chance: Lenas Mutter und einer ihrer Brüder boten an, die Großmutter zu beherbergen, doch diese erkannte schnell den eigentlichen Grund: Es ging ihnen um die tausend Mark, die der Großvater für ihren Unterhalt bereitgestellt hatte. Immer wieder flüchtete sich die Großmutter in ihr ehemaliges Zuhause, wo sie vorübergehend bei Familie Gröbmayr bleiben konnte. Doch nach einem Schlaganfall war es nicht mehr möglich und sie ganz auf ihre Stieftochter in Haslach angewiesen.
Damit brach die für sie härteste Zeit ihres Lebens an, denn niemand kümmerte sich um sie. Sie bekam kaum zu essen und wurde nur unzureichend versorgt. Beim Umzug ins rund 10 km entfernte Sindlhausen fand die schlechte Behandlung ihren Höhepunkt. Wie Lena Christ in ihren Erinnerungen berichtet, »wurde die kranke Frau, obwohl es Winter war, mit ihrem Bett zu oberst auf den mit Möbeln beladenen Leiterwagen gebunden und so den weiten Weg auf der holprigen Landstraße nach dem neuen Wohnort gefahren«. Bald danach sei sie gestorben, niemand wollte das Begräbnis bezahlen, und so wurde sie auf Gemeindekosten beerdigt. Eine Frau, die so vielen heimatlosen Kindern ein Zuhause gegeben hatte, stand am Ende allein und ohne Heimat da. Lena konnte das nicht begreifen. Warum gab es keine Gerechtigkeit im Leben? Warum wurde es nicht belohnt, wenn man Gutes tat, so wie die Großmutter? Der einzige Mensch, der ihr eine Erklärung hätte geben können, fehlte: der Großvater. Mit seinem Tod schienen Glück, Verständnis und Wärme für immer verschwunden zu sein. Lena hatte ihren einzigen Haltepunkt verloren. Die Welt war für sie aus den Fugen geraten.
8
Der Singvogel
Nach dem Tod ihres Großvaters war Lena alles egal. Der Schmerz und die Trauer um den geliebten Menschen waren größer als die Angst vor den Gewalttätigkeiten ihrer Mutter. Sie beobachtete, dass sich deren Verhalten, das eine Zeit lang gemäßigter und ausgeglichener gewesen war, wieder dem der früheren Jahre annäherte. Außerdem registrierte sie, dass die Mutter von Tag zu Tag dicker wurde. Als sie einmal auf dem Heimweg von der Schule einer schwangeren Frau begegnete, wurde sie von ihren Klassenkameradinnen aufgeklärt, was es damit auf sich hatte. Eine wusste, dass ein Mann mit einer Frau dazu etwas Schlimmes treiben musste, die andere, wo das Kind herauskam. »Und da braucht ma die Hebamme zum Aufschneidn und Zunähn«, erklärte sie. Für Lena waren das ungeheuerliche Erkenntnisse, die sie zu Hause an ihrem eigenen Körper überprüfte und für unmöglich befand. Doch von diesem Moment an verspürte sie Mitleid mit der Mutter und sah ihr ihre schlechte Laune nach. 1895 wurde Lenas dritter Halbbruder, Wilhelm, geboren. Nun
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