Lena Christ - die Glueckssucherin
Trauerhaus angekommen fand sie die Großmutter »ganz schneeweiß und fast erblindet«. Als die Sargträger den Sarg abholen wollten, bat Lena, den Großvater noch einmal sehen zu dürfen. Zunächst vergeblich, denn man wollte ihr den Anblick ersparen; erst als ihr Bitten immer flehender und drängender wurde, gab man nach. Was sie zu sehen bekam, hatte sie nicht erwartet: »Der Tote hatte Augen und Mund weit offen und war furchtbar entstellt, teils von dem entsetzlichen Leiden der letzten Tage, teils von der vorgeschrittenen Verwesung.«
Der Großvater war nicht der erste Tote, den sie gesehen hatte, doch bisher hatte sie dem unfassbaren Geschehen nie allein gegenübergestanden, sondern immer an der starken Hand des Großvaters. Jetzt war nur noch die Großmutter da. Als der Pfarrer mit den Ministranten eintrat und die Begräbniszeremonie begann, schloss Lena sich eng mit ihr zusammen. Schweigend schritten die beiden hinter dem Sarg her – ganz anders die Mutter, die unaufhörlich laut schrie und jammerte. Lena kümmerte sich nicht darum. Zu groß war ihr eigener Schmerz und beinahe noch größer die Wut auf diejenige, die verhindert hatte, dass sie sich von ihrem Großvater verabschieden konnte. Er war sehr beliebt gewesen, unzählige Menschen gaben ihm das letzte Geleit, der Trauerzug schien nicht enden zu wollen.
An der Grabstelle angelangt, verlor Lena die bis zu diesem Zeitpunkt tapfer bewahrte Beherrschung und brach zusammen. Obwohl beinahe bewusstlos, vernahm sie noch die Worte einer alten Bäuerin, die Ohnmacht sei ein Zeichen dafür, dass der Hansschuster sein Enkelkind bald zu sich holen werde. Doch diese Prophezeiung hatte keine erschreckende, sondern eine beruhigende Wirkung auf Lena. Sie hoffte inständig, dass sie sich bewahrheiten würde. Sie wollte in diesem Augenblick nichts lieber als auch dort sein, wo der Großvater war.
Verantwortlich fühlte sie sich für ihre Großmutter, deren stille Trauer ihr naheging. Die alte Frau weigerte sich, am Leichenschmaus beim Huberwirt teilzunehmen. Als Lena es geschafft hatte, sie zu überreden, und sie gemeinsam im Gasthaus eintrafen, war der Streit um das Erbe schon in vollem Gang. Der Großvater hatte bereits während seiner Krankheit das Haus verkauft und veranlasst, dass der Erlös unter seinen Kindern verteilt werden sollte. Tausend Mark waren für seine Frau zur Sicherung ihres Lebensabends bestimmt. Sie übergab das Geld ihrer Stieftochter Nanni in Haslach, als sie bei ihr einzog.
Die Begräbnisfeier beim Huberwirt endete mit einem Eklat. Den ganzen Tag über hatte Lena zwischen hemmungsloser Trauer und mühsamer Beherrschung geschwankt. Mehr als einmal war sie einem weiteren heftigen Zusammenbruch nahe gewesen, doch immer wieder zog sie sich so weit aus dem Geschehen heraus, dass sie beinahe zu erstarren drohte. Sie fühlte sich leblos, in einer anderen, fernen Welt – einzig die Großmutter bildete die Verbindung zu dem, was vor ihren Augen geschah. Wie durch einen Schleier sah sie den Huberwirt die Großmutter am Arm nehmen. Vor allen Leuten warf er Lenas Mutter vor, ihre Tochter nicht zum sterbenden Großvater gelassen zu haben. »Kimmt’s Lenei no net?«, habe dieser immer wieder gefragt. Magdalena Isaak geriet in Verlegenheit und entschuldigte sich damit, dass das Telegramm aus Glonn so spät in München angekommen sei. In diesem Moment formierten sich die widersprüchlichen Emotionen, die in Lenas Innerem tobten, zu einem einzigen heftigen Zornesausbruch. Öffentlich bezichtigte sie ihre Mutter der Lüge. Die Anklage gipfelte in dem Satz: »Dös vergiss i dir net, Muatter, dass d’so hart und ohne Herz g’wen bist!« Magdalena Isaak hielt sich zurück und wehrte sich nicht. Sie spürte, dass sie in diesem Augenblick keine Macht über ihre Tochter hatte. Lena war eins mit ihrer Wut und schien zu allem fähig.
Da wurde sie von der Großmutter beiseitegenommen, die erst jetzt realisiert hatte, dass sie nicht nach Hause gehen konnte, weil es dieses Zuhause nicht mehr gab. Die Verlorenheit der alten Frau ließ Lena ihre Fassung wiedergewinnen. Noch einmal ging sie mit ihr zum Friedhof. Dort sprach die Großmutter so mit dem Großvater, als säßen sie gemeinsam auf der Bank vor dem Hansschusterhaus. Er solle sie nicht vergessen und bald zu sich rufen, lautete ihre Bitte, »i mag s’ nimma, dö Welt, jatz wo i di nimma hab«. Ihr zweiter Gedanke galt der Enkelin. Er möge auf sie schauen und ihr beistehen, damit sie nicht von ihrer bösen
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