Lena Christ - die Glueckssucherin
nicht«, diagnostizierte er selbstkritisch in seinem Buch. Doch sie reichte immerhin aus, um das Besondere bei einem anderen Menschen zu erkennen. Dieses zu fördern war eine Zeit lang sein Lebensinhalt.
Schon wenige Wochen nach der ersten Begegnung mit Lena schlüpfte Jerusalem von der Rolle des Arbeitgebers in die des Mentors. Durch ihn lernte sie die Überflüssigkeit als Freiraum zu begreifen, den sie selbst gestalten konnte. Sie wurde mit seiner Hilfe zur Schriftstellerin. Zugleich, noch vor ihrer Heirat, erfüllte er für sie eine Vaterfunktion, was ihm offenbar bewusst war: Sie sei ein »vollkommenes Kind« gewesen, als sie zu ihm kam, schreibt er. Seine Erläuterung gerät etwas verworren: »Sind doch Kinder gut und böse oder im letzten Sinn weder gut noch böse, ebensowenig wie die Natur gut und böse ist.« Die Kategorien Gut und Böse würden nur von anderen angewendet, nicht vom Kind, nicht von der Natur. Beide seien eben, wie sie sind.
Obwohl Lena als Kind einer strengen und brutalen Erziehung durch die Mutter ausgesetzt war, hatte diese ihren eigenen Lebenswillen nicht brechen können. Doch der Körper hatte die erlittene Pein der Misshandlungen sowie die ungesunde Feuchtigkeit in den Neubauten nicht verkraftet: Eine chronische Lungenkrankheit war die Folge. Jerusalem, der ein abgebrochenes Medizinstudium hinter sich hatte, wandte sein Wissen an, um sie zu therapieren. Er zog noch zusätzlich Ärzte hinzu, und zusammen gelang es ihnen, die Krankheit zum Stillstand zu bringen. Die physische Erkrankung sei leichter zu heilen gewesen als die psychische, räumt er ein und spricht von Bewusstseinsstörungen Lenas, die sich bis zu Halluzinationen steigerten. Eine bestand darin, dass sie am gegenüberliegenden Haus »ein Kind am äußersten Rande des Daches« zu sehen glaubte, das in Gefahr war, in die Tiefe zu stürzen. Darüber hinaus habe sie zeitweise auch noch andere nicht vorhandene Dinge und Menschen gesehen. Die Diagnose »Hysterie«, die Jerusalem stellt, führt er auf die »von der Großmutter und Mutter überkommene Erbmasse« zurück.
Als derjenige, der ihre psychische Verfassung erkannt zu haben glaubte, fühlte er sich verpflichtet, ihr zu helfen. Er betrachtete sich als Retter, der in der Lage war, sie vor Fehlhandlungen zu bewahren. Diese waren vorprogrammiert durch die explosive Mischung aus »unfassbarer Naivität«, »primitiver Kindhaftigkeit« und den geschilderten »hysterischen« Zuständen. Es blieb für ihn ein Rätsel, wie sie es schaffte, ihre Romanfiguren so wirklichkeitsnah zu zeichnen, obwohl ihr selbst diese Nähe zur Realität fehlte. Aus Hilflosigkeit griff er zu einer seltsamen Erklärung: Ihre Begabung sei begründet in der »reinen, ausgesprochenen Triebhaftigkeit ihrer Natur«, welche verbunden sei mit der »Unfähigkeit, zu reflektieren«. Gerade das habe das Besondere ihrer literarischen Werke ausgemacht, sie jedoch im Leben scheitern lassen.
Das Gegensatzpaar triebhaft-reflektiert taucht häufig in seinem Buch auf. Triebhaft wird mit weiblich, reflektiert mit männlich gleichgesetzt. In seiner Schlussfolgerung lehnt er sich an Josef Hofmiller an, der konstatiert habe, dass die Frauen »noch in die Tiefen reichen, wo die Mannsbilder heut nicht mehr hinkommen. In eben jenen Bezirk des Unbewussten, das Paradies, in dem Kinder und Tiere noch daheim sind, in der vollkommenen Unschuld, vor dem Sündenfall; denn Wissen, Bewusstsein ist Sünde wider die Natur, der die Vertreibung aus dem Paradiese folgt.«
Süffisant betont Jerusalem die mangelnde Menschenkenntnis seiner Frau. Dieses Unvermögen habe im Widerspruch zu der Schärfe ihrer Wahrnehmung gestanden, was Äußerlichkeiten betrifft: »Sie, die über eine ganz seltene Beobachtungsgabe verfügte, und der bei ihren Mitmenschen auch nicht die geringste Einzelheit der äußeren Erscheinung entging, und Jahrzehnte hindurch von einem ebenso außerordentlichen Gedächtnis unverändert festgehalten wurde, war sich des öfteren über den sittlichen, seelischen und geistigen Wert oder Unwert ihr näher bekannter Personen vollkommen im unklaren.«
Ganz anders lautet die Einschätzung einer Frau, mit der Lena Christ in ihren letzten Lebensjahren befreundet war, Annette Thoma: »Die Persönlichkeit der Lena Christ war faszinierend: Von auffallend schlichter Natürlichkeit, verbunden mit einer Sicherheit im Urteil und klarer Ausdrucksweise.«
Jerusalems Insistieren auf Lena Christs Defiziten in der Menschenkenntnis zielt auf
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