Lena Christ - die Glueckssucherin
sich als Lektor und Lehrer, worauf Lena manchmal mit extremer Abwehr reagierte. Unberechenbar nennt er ihr Verhalten. Da ihr Wesen dem seinen »nicht nur fremd, sondern vollkommen entgegengesetzt war«, irritierten ihn ihre Gefühlsausbrüche und machten ihn zeitweise ratlos. Einmal habe sie »das ganze Manuskript gepackt, um es mitten durchzureißen und in das Herdfeuer zu werfen, über dem das Mittagessen kochte«. Zum Glück waren es fast hundert Seiten, sodass es ihr nicht sofort gelang und Jerusalem rechtzeitig eingreifen und die Arbeit mehrerer Wochen vor den Flammen retten konnte. »Hier gibt es nichts als Geduld, sagte ich mir, sonst ist alles verloren«, lautet sein Kommentar.
Im April 1911 zog Peter Jerusalem nach Fürstenfeldbruck bei München, in eine Wohnung, die in einem Landhaus mit Garten gelegen war. Dort, so berichtet er, hätten sie zusammen an der ersten Hälfte der Erinnerungen einer Überflüssigen gearbeitet. Er stellt diese Kooperation so dar, als habe er der Schreibenden wertvolle Anweisungen gegeben, zum Beispiel möglichst sachlich zu erzählen, »ohne viel Reflexion oder Randbemerkungen«. Dass dies Lenas Stil ohnehin entsprach, räumt er ein, nur habe er sie ab und zu bremsen müssen, wenn sie sich über das von der Mutter Erlittene nachträglich emotional ereiferte.
Weil er sich für die Schriftstellerin und die Frau zunehmend verantwortlich fühlte, änderte er sogar seine Lebensweise. Bis dato war er sehr genügsam gewesen, was materiellen Besitz anging. Ebenso kam er mit wenig zu essen aus. Was er viel dringender brauchte, waren Freiheit und Unabhängigkeit. Doch ein gemeinsames Leben mit Lena erforderte einen gewissen Verzicht darauf. Er hatte ihr schließlich versprochen, für sie zu sorgen, bis ihre Erinnerungen fertig waren. Deshalb verpflichtete er sich beim Verleger Wilhelm Langewiesche für ein neues Projekt: eine kulturhistorische Sammlung ausschließlich aus Original-Zeitdokumenten vom 14. bis 19. Jahrhundert. Damit war der Unterhalt für die nächsten Monate garantiert.
Im März 1912 reichte Jerusalem die erste Hälfte der Erinnerungen einer Überflüssigen beim Albert Langen Verlag ein. Er gab das Manuskript in Maschinenschrift ab. Durch eine Bekannte erfuhr Ludwig Thoma davon und empfahl der Verlagsleitung: »Schaugts ’s euch amal an.« So habe es Korfiz Holm später Jerusalem erzählt.
Josef Hofmiller behauptete 1930 im Kunstwart , Ludwig Thoma habe Lena Christ entdeckt – eine Zuschreibung, die in die Literaturgeschichte einging. Zehn Jahre später sah sich Jerusalem genötigt, diesen Irrtum aufzuklären und den seiner Meinung nach »bedeutenden Literaturkritiker und Essayisten« zu korrigieren. Er beanspruchte auch die Urheberschaft für den Titel dieses literarischen Debüts, obwohl er damit nicht ganz zufrieden gewesen sei. Bei dem Zusatz »einer Überflüssigen« handelte es sich um eine Notlösung, da ihm klar war, dass »Erinnerungen« allein nicht ausreichen würde. Schließlich handelte es sich bei der Verfasserin um eine völlig unbekannte Person.
Es dauerte einige Wochen, bis Jerusalem von der Verlagsleitung benachrichtigt wurde: Sie zeigte sich begeistert und forderte ihn auf, den zweiten Teil zu liefern. Lena war gerade damit fertig geworden, der Text musste nur noch in die Maschine getippt werden. Im Juni 1912 entschied sich der Verlag, das Buch zu publizieren.
21 Verlagsvertrag 1912
Mit der Aussicht auf Veröffentlichung nahm das Leben der beiden eine entscheidende Wendung: Die Zukunft, zumindest die nähere, war gesichert, also konnten sie heiraten. Eine bessere Zeit stand bevor. Sogar Lenas Gesundheit hatte sich stabilisiert, die Lungenkrankheit schien ausgeheilt. Ein Neuanfang, der für Lena einem Wunder glich: gesund, mit einem Mann verheiratet, der sie und ihre Begabung förderte, dazu das Erscheinen ihres ersten Buches. 1912 begann als Schicksalsjahr für Lena Christ und wurde zum Glücksjahr.
Die Hochzeit fand an einem »strahlend schönen Augusttag« statt. Es war der 28. August, Goethes Geburtstag. Sie wurden im Standesamt auf dem Petersbergl, dem heutigen Petersplatz zwischen Marienplatz und Viktualienmarkt, getraut. Aus Magdalena Leix, geb. Pichler, wurde Magdalena Jerusalem. Trauzeugen waren zwei befreundete Maler. Der Standesbeamte hielt sein Versprechen und machte es kurz, »verschonte« das einfach gekleidete Paar »mit jeder Feierlichkeit«. Nachdem die Unterschriften geleistet worden waren, gab es in der Torggelstube, dem
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