Lena Christ - die Glueckssucherin
Gebetbücher und ein zerlesenes Buch, das sie auf einer Bank im Englischen Garten gefunden hatte: Die göttliche Komödie von Dante. In diesem Monumentalwerk der italienischen Literatur aus dem 14. Jahrhundert schildert der Dichter seine Wanderung durch das Jenseits, die er unternehmen musste, weil er »den rechten Weg verloren hatte«:
Es war in unseres Lebensweges Mitte,
Als ich mich fand in einem dunklen Walde;
Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege.
Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald,
Der wildverwachsen war und voller Grauen
Und in Erinnrung schon die Furcht erneut:
So schwer, dass Tod zu leiden wenig schlimmer.
(Übersetzung: Karl Witte)
Lena hatte Die göttliche Komödie nicht nur wiederholt gelesen, sondern kannte sie nahezu auswendig. Erstaunlicherweise geht Jerusalem nicht näher darauf ein, was es bedeutete, dass eine literarisch ungebildete junge Frau nicht nur den Zugang zu diesem großen epischen Gedicht fand, sondern von der Bild- und Sprachwelt Dantes so stark berührt war, dass sie das Buch immer wieder las und rezitierte.
Um sie nicht zum Epigonentum zu verleiten, gab er ihr keine altbairischen Bücher zu lesen, sondern die Bauerngeschichten des Schweizer Dichters Jeremias Gotthelf sowie den Grünen Heinrich von Gottfried Keller, ohne zu wissen, ob sie überhaupt Interesse dafür aufbringen würde. Am nächsten Tag erschien sie übermüdet zum vereinbarten Diktattermin und entschuldigte sich sofort, sie habe die beiden Gotthelf’schen Bücher schon ausgelesen: Kaum zu Hause angekommen hatte sie gleich damit begonnen und nicht mehr aufhören können. Weder habe sie zu Abend gegessen noch am Morgen gefrühstückt. Die Bücher hätten sie so gefesselt, dass sie beinahe traurig gewesen sei, als sie bei den letzten Seiten angelangt war. Sie fragte, ob Gotthelf noch mehr geschrieben habe, und Jerusalem empfahl ihr Uli der Knecht.
Nach diesem durchschlagenden Erfolg setzte Jerusalem sein »Experiment« fort: Er forderte sie erneut auf, ihre frühen Kindheitserlebnisse aufzuschreiben. Während sie beim ersten Mal auf Altbairisch geschrieben hatte, sollte sie es nun in Schriftdeutsch tun. Auch diesmal war das Ergebnis nicht befriedigend – mit einer Ausnahme: »Dieser eine Satz aber war in seiner Fassung so originell, dass ich keinen Zweifel mehr an dem endgültigen Gelingen des Versuches hatte.« Er unterbreitete ihr den Vorschlag, nach Fertigstellung der Arbeit für den Langewiesche Verlag ihre Erinnerungen aufzuschreiben – mit seiner Hilfe. Mehr noch, er bot ihr an, während dieser Zeit für ihren Unterhalt aufzukommen. Verlockender und zugleich märchenhafter konnte der Einstieg in eine Schriftstellerkarriere nicht sein. Lena muss sich wie auserwählt vorgekommen sein. Jemand glaubte an sie und ihr Talent und wollte es sogar tatkräftig unterstützen. Hierin liegt das große Verdienst Peter Jerusalems – wenn es sich tatsächlich so ereignet hat, wie er es beschreibt. Schließlich lagen Jahrzehnte und dramatische Ereignisse dazwischen, die seine Schilderung beeinflusst haben könnten.
Parallel zu ihrer Schreibauftragsarbeit an den Volksbüchern – der schönen Magelone, den Schildbürgern, der Melusine und anderen – las Lena nun alles, was damals von Gotthelf verfügbar war. Dieser Mischung schrieb Jerusalem einen »ungemein förderlichen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Erzählerbegabung hinsichtlich des schriftlichen Ausdrucks« zu.
Der Entstehungsprozess von Lena Christs erstem Roman mutet fast bizarr an: »Wahllos, wie es ihr gerade in den Sinn kam, ließ ich mir die oder jene Episode aus ihrer Jugend wiedererzählen, um sie sogleich zu Papier zu bringen«, schreibt Jerusalem. Nachdem er alles protokolliert hatte, wurden die einzelnen Teile chronologisch geordnet. Besonders heikel war es, die Übergänge zu schaffen. »Über manchen Satz haben wir bisweilen stundenlang nachgedacht, um ihm die endgültige Fassung zu geben«, so Jerusalem, der glaubhaft beteuert: »Keine ursprüngliche Äußerung oder Satzwendung der Erzählerin wurde dabei von mir angetastet.« Seine besondere Bewunderung galt von Anfang an ihrer Fähigkeit, Dialoge zu kreieren. Das macht ihre schriftstellerische Qualität aus, dafür ist sie berühmt geworden: Sie lässt ihre Figuren auf unmittelbare Weise im Sprechen lebendig werden, ohne erklären oder kommentieren zu müssen. Sie sind sofort präsent durch das, was sie sagen und wie sie es sagen.
Und doch gab es Kämpfe, denn Jerusalem fühlte
Weitere Kostenlose Bücher