Lena Christ - die Glueckssucherin
Weinlokal neben dem Hofbräuhaus, ein viergängiges Hochzeitsmenü mit »vortrefflichem« Pfälzer Wein. Anschließend nahmen sie die Tram von der Maximilianstraße nach Gern, wo ihre neue Wohnung lag.
In der Karlstraße wurde Lena unruhig. Ein Haus, an dem die Tram vorbeifuhr, kam ihr bekannt vor. Dort hatte sie sich vor zwei Jahren von »am alten Weiberl« die Karten legen lassen: »Weißt, was die gsagt hat? I werde von mei’m ersten Mann getrennt und ein’n zweiten findn. Durch den werd i so berühmt, dass mi Könige empfangen, aber mit achtadreißig Jahr werd i sterbn!« Peter Jerusalem schenkte ihren Worten damals kaum Beachtung, obwohl er hätte wissen müssen, wie ernst seine Frau Weissagungen dieser Art nahm.
22 Erstausgabe 1912
Die Erinnerungen einer Überflüssigen wurden von der Fachwelt gelobt, hatten aber trotzdem keinen großen Erfolg beim Lesepublikum. Josef Hofmiller rühmte in den Süddeutschen Monatsheften das »Neuland, in das die Verfasserin führt; man lernt Lebensweisen kennen, von denen man keine Ahnung hatte: das Idyll des kleinen Halbbauern, dessen Frau städtische Kostkinder aufzieht; die Lebenshaltung des Münchner Vorstadtwirtschaftspächters; allerlei Kehrseiten eines Frauenklosters; das typische Schicksal der Pächterstochter und eine, wie es scheint, ziemlich typische Ehe in Kreisen untersten Bürgertums. Man hat das Gefühl, als seien Schichten, die bis jetzt fast nur schablonenhaft, pseudohumoristisch, verlogen gemalt wurden, hier unerbittlich geschildert, und dabei, was die Hauptsache ist, ohne jede Absicht, unerbittlich zu sein, sondern bloß mit der Absicht, zu erzählen.«
Nach der Hochzeit holte Lena ihre Töchter zu sich zurück. Sie lebten mittlerweile schon fast drei Jahre im Kinderheim der Josefsschwestern in Moosburg, in das sie nach den Strapazen des Trockenwohnens gebracht worden waren. Lena hatte sie nur einmal besucht. In dieser schwierigen Zeit des Neubeginns konzentrierte sie sich ganz auf sich selbst. Das verlangte ihr gerade erstarkter Überlebenswille. Er machte sie zur Hauptperson und degradierte die anderen zu Statisten. Das Schreiben ihres ersten Buches hatte absolute Priorität und wäre im familiären Zusammenleben mit den Kindern nicht zu realisieren gewesen.
Jerusalem schildert, wie die Mädchen, armselig gekleidet und ungepflegt – sie hatten Läuse – auf dem Münchner Hauptbahnhof eintrafen. Ihm sei die plötzliche Vaterrolle nicht fremd oder gar unangenehm gewesen, da er Kinder von jeher gern gehabt habe. Schnell nahm er eine Haltung ein, die er manchmal bis zum Extrem ausfüllte: die des Beobachters. Wie ein Forscher im Labor – wissbegierig und unbeteiligt. In manchen frühen Passagen seines Buches sieht man schon eine Szene aufscheinen, die noch in weiter Ferne liegt: Peter Jerusalem auf dem Waldfriedhof, in unmittelbarer Nähe seiner Frau, die sich zum Selbstmord entschlossen hat. Insbesondere der Bericht über seine Hypnose-Experimente entlarvt den kalten Blick, mit dem er sogar seine allernächste Umgebung betrachtete. Die Grenze zwischen Beobachter und Voyeur ist fließend, Jerusalem hat sie mehr als einmal überschritten.
Als er Lena Christ in hypnotischen Schlaf versetzte, wie er es in seinem Medizinstudium gelernt hatte, kannte er sie erst kurz. Aufgefallen war ihm ihre Übersensibilität. Wie erwartet dauerte es nicht lange, bis sie tief eingeschlafen war und er ihr Aufträge erteilen konnte, die sie selbstverständlich ausführte. Als Beispiel nennt er eine harmlose Aktion: So »befahl« er ihr Anfang der Woche, am Samstag die Kissen vom Sofa zu nehmen und unter seinen Schreibtisch zu legen. Als es so weit war, hatte er es längst vergessen und staunte, dass sie genau zum angegebenen Zeitpunkt in sein Arbeitszimmer trat und die Aufgabe erledigte. Anschließend konnte sie sich an nichts erinnern. Eine unheimliche Szene, die die Frage aufwirft: Waren es wirklich nur harmlose Spiele, die er mit ihr spielte?
23 Lena Christs Töchter Magdalena und Alexandra
Als die beiden Kinder in ihr neues Zuhause einzogen, waren sie neun und sechs Jahre alt. Alexandra, genannt Alixl, die jüngere, sei ihrer Mutter nachgeraten gewesen, wozu auch »originellere Einfälle« gehörten, »die mitunter jedoch nicht ungefährlich waren«, erzählt Jerusalem. Er hatte den Kindern ein Puppenhaus gebaut und Puppenmöbel dafür gekauft. Irgendwann fiel ihnen ein, dass Bettvorleger fehlten. Während die ältere Magdalena noch darüber klagte, schritt ihre
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