Lena Christ - die Glueckssucherin
Schwester zur Tat, nahm eine Schere und verschwand damit. Als Jerusalem kurz danach seinen Dackel Lumpi verschreckt mit einem blutigen Ohr herumschleichen sah, war ihm sofort klar, was geschehen war: Alixl hatte den Ohrlappen des Hundes als Bettvorleger für ihr Puppenhaus verwenden wollen. Eine erschreckende Szene: eine Sechsjährige, die nicht bedachte, dass ein Tier ein Lebewesen war, das wie sie selbst Schmerz empfand. Um dem Mädchen klarzumachen, was sie beinahe angerichtet hätte, griff er zu einem drastischen Mittel, nahm die Schere, setzte sie an ihr Ohr, worauf sie zu weinen begann.
Alixl verhielt sich offenbar in vieler Hinsicht ungewöhnlich und unangepasst. So ging sie etwa auf eigene Faust »einkaufen« und ließ bei der Marktfrau anschreiben. Oft verteilte sie das Obst unter ihren Schulfreundinnen, manchmal aß sie es ganz allein. Sie hatte anscheinend früh gelernt, dass man sich das, was man haben wollte, selbst nehmen musste.
Jerusalem wusste, dass das Kind Anleitung und Erziehung brauchte, und beschloss, ihr beizubringen, dass man in einer Gemeinschaft lernen müsse, sich und seine »Triebe« zu beherrschen. Zur Strafe bekam sie nach dem Mittagessen kein Obst, bis ihre Schulden zurückgezahlt waren. Dass sie schnell begriffen hatte, was Selbstkontrolle heißt, wurde bald deutlich. Als der Dackel Lumpi gerade dabei war, sich eine Wurst vom Abendbrottisch zu stibitzen, schritt sie ein. Sie nahm ihm die Wurst weg und erklärte: »Lumpi, weißt, man darf net immer die Triebe, die wo man hat, ausführn. Die Wurscht ghört für uns!«
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Fluchtlinie 3: Schreiben
Am Anfang stehen zwei Bilder:
Bild 1: Lena sitzt stundenlang auf einer Parkbank vor der Neuen Pinakothek und schreibt, ohne sich ablenken zu lassen: weder vom Verkehrslärm der Trambahnen und Autos noch von den schreienden Kindern, die in den Grünanlagen spielen.
Bild 2: Lena befindet sich im Krankensaal des Schwabinger Krankenhauses, zusammen mit zehn oder zwölf anderen Patientinnen. Während diese sich laut unterhalten, sitzt sie im Bett und schreibt ganz selbstverständlich und hochkonzentriert an ihrem Manuskript.
Beide Szenen hat Peter Jerusalem als Augenzeuge wiedergegeben. Im Herbst 1911 hatte sich Lenas Lungenkrankheit so stark verschlimmert, dass sie sich wieder ins Krankenhaus begeben musste. Sobald es ihr etwas besser ging, schrieb sie dort weiter an ihren Erinnerungen , die sie in Fürstenfeldbruck und auf der Parkbank begonnen hatte. Zum Tagesablauf gehörten Visiten, das Ein- und Ausgehen der Schwestern und – zu bestimmten Zeiten – der Besucher. »Das alles störte Lena nicht. Sie saß halb aufrecht im Bett, von Kissen im Rücken gestützt, und schrieb in das dicke, in schwarze Wachsleinwand gebundene Heft und fertigte während der Ruhepausen die drolligsten Figuren aus Resten bunter Wollfäden, die ihr ihre Bettnachbarin, die mit einer Strickarbeit beschäftigt war, überlassen hatte.« Bei seinen Besuchen gingen sie das Geschriebene gemeinsam durch. »Meist war es nicht viel, was der Änderung bedurfte; saß doch jetzt alles, wie schon erwähnt, auf den ersten Anhieb.«
24 Wollpuppe, angefertigt von Lena Christ
Es war vor allem eine Atmosphäre der Geborgenheit, die Lena Christ brauchte, um schreiben zu können. Sie war ein Morgenmensch, also in der Lage, gleich nach dem Aufwachen mit der Arbeit zu beginnen. Hinzu kamen praktische Erwägungen: Im Winter war es schwierig, die Wohnungen zu heizen; nur im Bett war es warm.
Ebenso sicher fühlte sie sich an ihrem exponierten Schreibort, der Bank vor der Neuen Pinakothek. Offiziell wartete sie dort auf Peter Jerusalem, der in der Nähe unterrichtete. Ihre eigentliche Motivation lag jedoch darin, dass sie nicht gern allein zu Hause in Fürstenfeldbruck blieb. Dort konnte sie die Kräfte, die sie zum Schreiben brauchte, nur selten mobilisieren. Wann und warum sie sich bei ihr und in ihr meldeten, konnte sie sich nicht erklären. Sie wusste nur, dass es klug war, nicht weiter danach zu fragen, denn durch zu viel Neugier würden sie sich vielleicht bedroht fühlen und zurückziehen. Lena Christ fragte also nicht nach dem Warum, sondern nahm die schöpferischen Kräfte gastlich in sich auf und verlieh ihnen ihre Stimme. Schon als Kind hatte sie erfahren, dass es Orte gab, an denen etwas zum Klingen gebracht wurde, von dem sie nicht geahnt hatte, dass es in ihr steckte. Sie hatte entdeckt, dass sie so gut singen konnte, dass sie andere Menschen verzauberte. Wenn die
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