Lenas Tagebuch
herum ein. Obwohl dieser Ort so ruhig und augenscheinlich anziehend ist, ist er in Wirklichkeit schrecklich. Von den benachbarten steinernen Häusern zu beiden Seiten des kleinen Parks ist nur noch ein Haufen Ruinen übrig geblieben. In einem dieser Häuser, die gegenüber ihrer jetzigen Wohnung liegen, lebten Wera und Onkel Serjoscha.
Lena fühlte sich bei ihnen so wohl, dass sie nicht nach Hause wollte und sich entschied, bei ihnen zu übernachten. Sie tranken Tee. Wera gab ihr ein kleines »Bisslein«, wie sie es nannte, Brot und einen Teelöffel Zucker, außerdem gab es Zitronensäure. Dann machten sie Lena das Bett auf einer besonders hohen Truhe. Die Truhe erinnerte Lena an einen Eisenbahnwaggon, sie gefiel ihr sehr. Lena zog sich zufrieden aus, kuschelte sich in die Steppdecke, und im Einschlafen schien es ihr, als liege sie in einem Schlafwagen, sie spürte sogar, wie sie mit dem Bett zusammen irgendwohin fuhr und sanft geschaukelt wurde. Das lag daran, dass Lena an diesem Tag überhaupt leicht schwindlig geworden war. Sie musste die ganze Zeit an die bevorstehende Reise denken, die Eisenbahn war hier ganz nah, man konnte das Pfeifen der Dampflokomotiven hören – das alles zusammen erweckte in ihr die Illusion, dass sie irgendwohin fahre.
Lena schlief nicht besonders ruhig. Direkt über ihrem Kopf hing der Lautsprecher, und das laute Schlagen des Metronoms störte ihren Schlaf. Am Morgen weckte Wera sie auf. Lena wusch sich Gesicht und Hände mit Seife, wie es sich gehört. Dann hackte Wera auf der Türschwelle Holz, Lena holte Brot aus der Bäckerei und half, das Holz ins Zimmer zu schleppen. Kissa kochte währenddessen Tee. Es war herrliches Wetter, der Wind zerriss die Wolken, und der Sonnenschein erleuchtete wieder die Erde. Durch die Fenster war der blaue Himmel zu sehen, die Vöglein zwitscherten, und die Pfiffe der Lokomotiven waren zu hören. Sie lockten, es war, als riefen sie: Auf geht’s, los geht’s! …
Lena trank zum Frühstück fünf Tassen Tee mit Zitronensäure, mit Brot und Zucker. Kissa bewirtete sie damit. Dann sah sie sich Weras Kinderbücher an. Wie man so sagt: »Jeder Mensch hat seine Passion, seine Leidenschaft.« Kissa zum Beispiel liebt leidenschaftlich Stickvorlagen, Garne und schöne Stoffstücke und sammelt sie. Lena liebt Ansichtskarten, Vögel und andere Tiere. Weras Leidenschaft hingegen sind Kinderbücher, vor allem für die ganz Kleinen. Sie kauft und sammelt diese Bücher und hat sehr viele davon, darunter alte von ihrer Mutter und neue wie zum Beispiel »Vom dummen Mäuslein«, »Das Tierhäuschen« und andere.
Onkel Serjoscha legte sich hin, um sich auszuruhen, Kissa schrieb Briefe, und Wera machte sich an ihre Arbeit. Diese besteht darin, dass Wera die Räume des Winterpalastes abzeichnet, und zwar in dem Zustand, in dem sie sich jetzt befinden, von Bomben und Granaten beschädigt. Zu Hause bearbeitet sie ihre Skizzen. Das ist eine Arbeit von historischer Bedeutung, mit dem Pinsel des Künstlers die Spuren der Verbrechen der faschistischen Schlagetots festzuhalten. Das wird in die Geschichte eingehen. Wera ist überhaupt eine ausgezeichnete Malerin, die Bilder gelingen ihr sehr gut. So waren alle mit ihren Angelegenheiten beschäftigt, und Lena bemerkte bald mit Bedauern, dass das Anschauen der Kinderbücher sie sehr ermüdet. Sie hörte damit auf. Apathie überkam sie, sie wollte kein einziges Körperteil bewegen, die Augen fielen ihr zu, ihr wurde schwindlig, sie war wie benebelt und fühlte sich sehr schlecht. Aber sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Lena legte die Bücher an ihren Platz zurück, doch als sie durchs Zimmer ging, spürte sie, wie ihre Knie zu zittern begannen. »Was ist mit mir los, ich werde doch nicht krank werden«, dachte sie besorgt. Sie war niedergeschlagen und traurig. Die Sonne verbarg sich, am Himmel zogen Wolken auf, und da heulte auch noch, unheilvoll Alarm verkündend, die Sirene los. Der Alarm dauerte etwa eine Stunde. Als er vorbei war zog Lena sich an, verabschiedete sich von allen und verließ ihr Nachtquartier. Sie ging nach Hause, holte ihr Geschirr und machte sich auf den Weg in die Kantine. Dort stand sie lange in der Warteschlange, ging dann aber doch, ohne gegessen zu haben, denn Erbsbrei, Nudeln und Frikadellen waren schon ausverkauft, es gab nur noch Sojabrei, und auch der ging zur Neige. Es wäre so oder so nicht genug gewesen, außerdem saß dort eine neue Kassiererin, die, wenn man keinen
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