Lenas Tagebuch
Breiresten auskratzen. Ich begann gerade die Reste aufzuessen, da hörte ich draußen einen merkwürdigen Lärm, Schreie und Pfiffe von Milizionären. Ich fragte eine der Krankenpflegerinnen, was los sei. Sie war sehr erstaunt: »Weißt du denn nicht, dass da ein Brand ist, eine Straße weiter brennt das Karl-Marx-Werk. Da, komm, schau mal.« Sie führte mich ins Bad und zog den Vorhang beiseite. Draußen war es hell, heller als am Tag. Riesige Feuerzungen loderten, und roter Rauch stieg in Schwaden empor. Ja, das war ein riesiger Brand im Karl-Marx-Werk, eine Straße weiter als unser Gebäude. Nun wusste ich, was für ein Lärm das war. Da arbeiteten Feuerwehrleute, die ankommenden Feuerwehrautos lärmten, die Pumpen dröhnten, Rufe der Mannschaft waren zu hören. Das Feuer war erst gegen vier Uhr morgens gelöscht.
In dieser Nacht ist Wladimirowa gestorben, und eine neue Kranke mit einer Kopfverletzung sowie ein kranker 17-jähriger Junge wurden gebracht. Er ist am Hals verletzt, er war Feuerwehrmann auf dem Dach.
11. X. [November]
Es ist bereits November. Überall liegt Schnee. Es herrscht Frost. Ich gehe in die Schule, lerne, und alles, was ich im Oktober 47 durchmachen musste, kommt mir jetzt wie ein Albtraum vor. Es ist sogar schwer, sich vorzustellen, dass ich noch vor Kurzem um sechs Uhr früh aufgestanden bin. Schon um Viertel nach sechs haben Mama und ich das Haus verlassen. Es war kalt, dunkel. Dann die Straßenbahn, vollgestopft mit Menschen, die Pförtnerloge, der gerade durch den Garten getrampelte Pfad. Ich ziehe mich aus, und schon trage ich einen weißen Kittel, ein weißes Kopftuch … Da sind sie, die Kranken, die Bettpfannen, Ermahnungen: Lena, geh dorthin, Lena, komm hierher, Lena, lauf zur Apotheke, Lena, lauf ins Labor, Lena, bring den Urin zur Untersuchung. Ja, das ist kein Traum, das ist die Wahrheit. Ich habe Geld verdient. Und plötzlich wurde ich entlassen. Und nun bin ich wieder in der Schule. Ich gehe in die Schule Nr. 30 in der Tschernyschewgasse. Aus unserer Klasse waren es gestern noch fünf Jungen und vier Mädchen: Mischa I., Mischa Z., Wowa I., Janja Ja., Osja B. und Tamara A., Nadja K., Lida S., Bella K. und dann noch Galja W. Ja, und gestern habe ich noch Wowa gesehen, aber heute sind alle fünf nicht gekommen. Von Tamara habe ich erfahren, und sie weiß es von Osja, die ihn heute früh im Korridor getroffen hat, dass Mischa I., Mischa Z., Janja, Wowa Itkinson nun in eine andere Schule gehen, nämlich in die Nr. 36 in der Borodinskaja. Wie ist doch alles im Leben unbeständig.
Acht Jahre lang sind wir mit ihnen in dieselbe Klasse gegangen. Wir waren Schulkameraden, und plötzlich gehen sie fort, ohne uns ein Wort zu sagen, sogar ohne sich zu verabschieden. Wowa, wie sehr habe ich dich doch (es lohnt sich nicht, das Wort auszusprechen). Wir standen doch einander eine Zeit lang so nahe, wir sind doch zusammen ins Kino gegangen, haben hitzige Debatten geführt, wir waren doch Freunde, und plötzlich werden er, sein Name, sein Gesicht aus meinem Leben ausgestrichen, für immer. Ich kann nicht verstehen, wie sie dich dazu bringen konnten. Ist es etwa so einfach, plötzlich in eine andere Schule zu gehen? Aus welchem Grund? Nichts davon haben sie erklärt. Sind wir denn durch nichts mit ihnen verbunden? Bedeuten ihnen etwa acht Jahre nichts? Wie konnten sie diesen Schritt wagen? Nein, das ist nicht zu glauben. Aber warum? Im Gegenteil, es ist alles so einfach! Einfacher als einfach! Was für eine Eigenbrötlerin ich doch bin! Ich muss mich daran gewöhnen. Alles läuft so in unserer Zeit.
Verbundenheit! Kameradschaftsgefühl! Nein, diese Begriffe sind von uns, der heutigen Jugend, genauso weit entfernt wie wir von der Sonne.
Also ist alles vorbei. Wowa, wir haben einander gekannt und uns getrennt. Alles wird sich in Rauch auflösen, und wir werden einander vergessen, und nur, wenn du irgendwann mal dein Album mit den Fotos anschauen wirst, wirst du dich daran erinnern, dass es mal irgend so eine Lena Muchina gegeben hat, ein gutmütiges Mädchen, und du wirst lächeln, wenn du auf der Rückseite des Lichtbilds liest: »Dem hässlichen Entlein von Lena«. Vielleicht wird das Schicksal uns noch irgendwo zusammenbringen, aber, Wowa, ich werde dich nie vergessen.
Mein Leben lang an dich denken werde ich.
Dich nicht lieben – kann ich nicht.
Niemals vergessen werde ich dich,
Mit Leid denk ich an dein Gesicht.
Auch wenn du der letzte Nichtsnutz auf der Erde bist. Eine niedere
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