Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
Vom Netzwerk:
aber schrecklich. Unser Sagorodnaja-Prospekt wurde von Sprengbomben überschüttet. Ich beschloss, nicht in den Luftschutzkeller zu gehen, sondern gleich zur Hausverwaltung, da ich dort heute von acht bis elf Dienst hatte. Als ich auf die Straße trat, sah ich sofort, dass in Richtung Witebsker Bahnhof eine Straßenbahn lichterloh brannte und von den Dächern grüne Sternchen, brennende Phosphorstückchen, flogen. An den »Fünf Ecken«, und zwar im Haus, wo es radiotechnisches Zubehör gibt, brannte es. Das Türmchen auf diesem Haus stand in Flammen.
    Und bei unserem Haus stand die »Neun«. Die Straßenbahn wurde von einer Brandbombe getroffen, die neben den Waggon gefallen war. Wenn unsere Jungs nicht gewesen wären, die sie gelöscht haben, hätte die Straßenbahn gebrannt. Die Jungs aus unserem Haus haben die Straßenbahn gerettet. Irgendwo in der Nähe ist eine Sprengbombe eingeschlagen, wodurch das ganze Haus in seinen Grundmauern erschüttert wurde. Es sind ja tolle Tage, die begonnen haben. Aber heute Mittag waren Tamara und ich im Kino »Ok­tjabr« und haben uns neue Filme angesehen, alles Kurzfilme, einer mit einem kleinen Konzert, »Die alte Garde«, und »Korsinkinas Abenteuer«. Der letzte Film ist sehr lustig, wir haben herzhaft ­gelacht.
    16. Oktober
    Der Winter ist da. Gestern ist der erste Schnee gefallen. Die Deutschen rücken wie eine unüberwindliche Mauer gegen uns vor. Ich habe Angst, auf die Karte zu schauen. Die letzten Nachrichten sind bedrückend. Unsere Armee hat sich aus Mariupol, Brjansk, Wjasma zurückgezogen. Intensive Kämpfe finden im Kalininer Frontabschnitt statt. Na, das bedeutet wohl, dass man Kalinin 46 als eingenommen betrachten kann. Das ist doch schrecklich, was da passiert. Wjasma ist 150 Kilo­meter von Moskau entfernt. Das bedeutet, die Deutschen sind 150 Kilometer von Moskau entfernt. Heute wurde das erste Mal im Radio verkündet: »An der Westfront ist die Lage ernst. Die Deutschen hatten eine beträchtliche Menge an Panzern und motorisierter Infanterie konzentriert bereitgestellt und konnten unsere Abwehr durchbrechen. Unsere Truppen haben sich unter gewaltigen Verlusten zurückgezogen.« Ja, genau das ist uns im Radio mitgeteilt worden. Noch nie wurde uns etwas Vergleichbares mitgeteilt.
    Die Stimmung ist gedrückt. So langsam hat es den Anschein, als ob wir helle Tage nicht mehr erleben dürfen. Als würden wir bis zum hellen, Freude bringenden Mai nicht überleben.
    Wahrscheinlich werden die Deutschen Leningrad in Trümmer legen und dann einnehmen. Wir alle, die es schaffen werden zu fliehen, werden in Wäldern leben. Und dort werden wir auch sterben oder in der Kälte erfrie­ren oder verhungern, oder wir werden getötet.
    Ja, der furchtbare Winter ist da, Kälte und Hunger für viele Tausende Menschen. Heute kommt Tamara zu mir, und wir werden zusammen mit Aka Englisch lernen. Morgen werde ich wieder arbeiten gehen. Dort ist es auch nicht einfacher. Anjetschka ist gestorben und zwei weitere Frauen. Ich habe fast meinen ganzen letzten Dienst am Bett einer Sterbenden verbracht.
    Ich habe flüchtig Waleri gesehen, er wird, wie es scheint, nicht bei uns arbeiten. Er stand ohne Kittel im Flur, ich habe ihn nicht erkannt. Er hat mich als Erster begrüßt. Ein guter Junge, schade, dass unsere Bekanntschaft so kurz war.
    Heute Nacht und gestern, als ich tagsüber schlief, habe ich immerzu von Wowka geträumt. Er kam im Traum ohne Kleidung und hungrig zu mir, und ich gab ihm zu essen, zog ihn an, und er bedankte sich sehr und sagte, erst jetzt erkenne er, was ein wahrer Freund ist. Und später hat mich jemand mit einem Messer gejagt. Er hatte mich – es war im Herbst in einem Park – schon fast eingeholt, da sah ich plötzlich Wowka mit den Jungs, er stellte meinem Verfolger ein Bein, und ich war gerettet …
    18. Oktober
    Gestern Abend hatte ich große Angst. Um acht Uhr war Fliegeralarm. Gerade war das Abendessen an die Kranken ausgeteilt worden. Die Flak begann sofort ganz in der Nähe zu schießen. Plötzlich krachte es laut, und wie, und man hörte das Bersten von Fensterscheiben. Ich war gerade im Frauenkrankenzimmer. Die Patientinnen fingen sofort an zu schreien, zu stöhnen, viele wurden hysterisch. Anissimow und der dienst­­habende Arzt kamen angerannt. Sie konnten die Kranken irgendwie beruhigen. Als es etwas ruhiger geworden war, brachten eine Sanitäterin und ich das Geschirr in die Kantine zurück. Mir wurde gesagt, ich dürfe den Kessel mit den

Weitere Kostenlose Bücher