Lenas Tagebuch
liegen acht Tage. Und ich werde an diesen acht Tagen wieder Tee ohne irgendwas dazu trinken und mich darüber ärgern, wie ich auf die Idee kommen konnte, an einem Tag 25 Stück Konfekt zu essen.
Meine Schokoladentafel, meine schöne, echte englische Schokoladentafel, wo bist du geblieben? Warum habe ich dich aufgegessen? Man hätte sich nur an deinem Anblick erfreuen sollen, aber ich habe dich aufgegessen. Ich bin schlimm. Jetzt gibt es nur eine Hoffnung, d. h. genau genommen einen Trost. Wenn Mama mit uns teilen will, bekomme ich noch eine Tafel. Aber ich werde sie nicht essen, nein, Gott behüte. Ich werde mich nur an ihrem Anblick ergötzen und sie erst essen, wenn Mama keinen Krümel Schokolade mehr hat.
Ich habe gerade mein Tagebuch wieder gelesen. Gott, wie kleinlich ich geworden bin. Ich denke und schreibe nur noch über Essen, aber außer Essen existieren doch doch noch viele andere Dinge.
Wie übermütig die Deutschen inzwischen geworden sind. Sie schießen immerzu mit ihrer Fernartillerie. Aber das macht nichts. Bald wird man sie zum Schweigen bringen. Gerade ist direkt über den Dächern ein Flugzeug in genau die Richtung geflogen, aus der geschossen wird.
Die Stadt lebt weiterhin normal. Fabriken stellen ihre Produkte her. Geschäfte verkaufen ihre Waren. Es gibt Kino-, Theater- und Zirkusvorstellungen. Die Schüler lernen. Allerdings wurde das Leben auf eine neue Art umgestellt: Das Gas funktioniert nicht, Petroleum wird nicht verkauft, die Menschen kochen ihr Mittagessen auf den Öfen mit Brennholz und Spänen. Aber die meisten Menschen sind auf verschiedene Kantinen angewiesen. Inzwischen geht kaum jemand mehr in den Luftschutzkeller hinunter, weil die Menschen aufgrund systematischer Unterernährung nicht mehr die Kraft haben, Treppenstufen herauf- und hinunterzusteigen. Jetzt ist gerade eine Zeit, wo man nichts kaufen kann, und deshalb haben die Jungen immer viel Geld bei sich. Sie gehen fast jeden Tag ins Kino und ins Theater, und in den Pausen und während der Fliegeralarme im Luftschutzkeller vertreiben sie sich mit Kartenspielen die Zeit. In allen Pausen und sogar in manchen Unterrichtsstunden spielen sie um Geld Blackjack. Das ist doch wirklich ein Laster! Ich habe ihr Spiel oft beobachtet. Sie gewinnen tatsächlich pro Spiel fünf bis sieben, manchmal auch acht Rubel. Und ich habe gesehen, wie sie jeden Respekt vor dem Geld verlieren, wie achtlos ein »Dreier«, drei Rubel, auf die Schulbank, in »die Bank«, geworfen wird. Und wenn ein Rubel zufällig herunterfällt, beeilt sich der Besitzer nicht, sich zu bücken, um ihn aufzuheben, und von 20 Kopeken müssen wir gar nicht reden. Manche Jungen stecken das gewonnene Geld mit einer solchen Gier weg, andere hingegen mit einer betonten Nachlässigkeit.
Gestern habe ich meine Postkarten durchgesehen. Was für schöne Postkarten mit verschiedenen Panoramen wurden doch früher herausgegeben, jetzt dagegen werden so schlampige Postkarten herausgegeben, ohne jede Mühe und Sorgfalt. Durchgesehen habe ich auch alle Postkarten mit Mitteilungen an mich auf der Rückseite, die mir Mama aus Pjatigorsk vor drei Jahren geschickt hat.
Und ich habe mich daran erinnert, dass Mama und ich irgendwann einmal davon geträumt haben – es ist übrigens noch gar nicht so lange her, im letzten Winter –, mit einem Dampfer auf der Wolga zu fahren. Wir haben uns erkundigt und geprüft, was das alles kosten würde. Ich weiß noch, Mama und ich hatten fest beschlossen, im Sommer irgendwohin zu reisen. Und das wird uns nicht verwehrt sein. Mama und ich werden uns noch in einen Wagen erster Klasse mit hellblauen Vorhängen und einer Lampe mit Lampenschirm setzen, und dann wird dieser glückliche Moment kommen, wo unser Zug die Glaskuppel des Bahnhofs verlassen und in die Freiheit brausen und wir in die weite Ferne reisen werden. Wir werden an einem Tischchen sitzen, etwas Leckeres essen und wissen, dass auf uns Abenteuer, leckere Speisen, unbekannte Orte, die Natur mit ihrem blauen Himmel, ihrem Grün und ihren Blumen warten. Auf uns werden Spaß und Vergnügen warten, eins besser als das andere. Und wir werden sagen, während wir sehen, wie Leningrad hinter uns in der Ferne entschwindet: Diese Stadt, in der wir hungrig in einem kalten Zimmer gesessen haben und das Donnern der Flak und das Brummen feindlicher Flugzeuge gehört haben. Und wir werden diese Erinnerungen beiseitewischen wie einen schlimmen Albtraum und unseren Blick nach vorne richten, in die Ferne,
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