Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
Vom Netzwerk:
dorthin, wohin der Expresszug mit dem Roten Stern mit uns eilt. Hier auf dieser Erde sind die Deutschen gelaufen, damals war sie mit Schnee überdeckt, von Geschosstrichtern und Schützengräben durchzogen, von Stacheldraht umzäunt, kalter, eisiger Wind pfiff um die Ohren. Diese Bahnlinie, auf der wir gerade dahineilen, war demontiert. Es waren Partisanen, die sie demontiert hatten. Und unterhalb dieser Böschung lagen zerhackte Waggons, und hier und da hoben sich auf der Böschung die zur Hälfte mit Schnee bedeckten Leichen feindlicher Soldaten schwarz ab. Und Mama und ich werden unwillkürlich das dicke Gras der Böschung beäugen, aber wir werden dort nichts mehr sehen, was an den Krieg, den wir überlebt haben, erinnert. Wenn auch nicht der fernen Vergangenheit, aber dennoch der Vergangenheit werden bereits jene historischen Tage angehören, wo die Wende kam und die Deutschen nicht mehr vorgerückt sind, sondern anfingen, den Rückzug anzutreten, wo die Deutschen flohen, wo wir in Berlin einmarschierten, wo das letzte Geschützfeuer erdröhnte, die letzte Granate explodierte und der letzte Gewehrschuss fiel. Hinter uns liegt bereits, durch einen Dunstschleier verdeckt, das ferne graue Leningrad, liegen jene Tage, in denen wir unsere siegreichen furchtlosen Krieger – wahre Helden – empfangen haben, deren Ruhm auch an Jahrhunderten nicht getilgt werden kann. Das alles ist entschwunden, in den Hintergrund getreten und hat Neuem Platz gemacht. Und dieses Neue ist auch schon vorbei. Wir haben schon unsere ruhmreichen, im Kampf gefallenen Soldaten begraben, ehren sie und behalten sie in ewiger Erinnerung. Leningrad hat seine Wunden geheilt, wir haben neue Fenster eingesetzt und zerstörte Gebäude wieder aufgebaut. Ja, das alles ist schon vorbei. Auch jener Tag, an dem zum ersten Mal auf dem Gaskocher in der Küche das Gas wieder zischend aufgeflammt ist und es zum ersten Mal »Eskimo«-Eis gegeben hat.
    Mama und ich schauen aus dem Fenster, und mein Gott, wie glücklich wir sind. Und immer wieder schwirren Erinnerungen durch den Kopf. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und freuen uns darüber, dass sie nicht mehr wiederkehren wird. Wir erinnern uns daran, wie das letzte Entwarnungssignal klang, wie das festliche Leningrad nicht mehr durch Brände erhellt wurde, sondern durch das Licht der elektrischen Beleuchtung, wie die Schaufenster nicht mehr mit Bretter zugenagelt, sondern wieder hell erleuchtet waren, wie die Straßenbahnen klingelten und die Autos zu hupen begannen und die Scheinwerfer aufleuchten ließen und wie das Licht tausendfach in den Fenstern der glücklichen Häuser aufflammte. Und die Reklame und die Aushänge, alles funkelte und blitzte an diesem ersten Festtag …
    23. November
    Gestern habe ich meiner Mama meine Fan­ta­sie­geschichte vorgelesen, und sie hat ihr sehr gefallen. Weiter will ich nicht daran schreiben. Ich werde das jetzt so machen, dass ich nach der Schule im leeren und stillen Klassenzimmer bleibe und alle Hausaufgaben erledigen werde, die wir gerade bekommen haben. Denn die Intervalle zwischen den Fächern im Stundenplan sind, na, höchstens zwei, drei Tage. Und ich denke, wenn ich heute zum Beispiel Geografie lerne, die gerade aufgegebene Hausaufgabe, in einer Atmosphäre der Stille und Ruhe, dann werde ich doch nicht alles in drei Tagen völlig vergessen haben, und selbst wenn ich es vergesse, werde ich nicht lange fürs Wiederholen brauchen. Dafür kann ich, wenn ich meinen Plan genau erfülle, zu Hause lesen, ich werde zu Hause lesen. So bald wie möglich muss ich »Große Erwartungen« von Dickens zu Ende lesen und etwas anderes zu lesen beginnen. Ich will ein »Regal des Bolschewiken« einrichten und verschiedene Broschüren kaufen. Ja, später muss ich noch eine russische Grammatiksammlung kaufen und alle Rechtschreibregeln wiederholen, um meine Aufsätze in Literatur nicht durch Analphabetentum zu entwerten. Aber genug sinnlos gequatscht. »Taten sagen mehr als Worte!« Jetzt werde ich Literatur lernen, dann die anderen Fächer. Bis dahin hat Aka die Suppe aufgewärmt, wir essen, danach stehe ich auf und schreibe ­Algebra ab.
    27/XI 41
    Heute kam ich um halb zwei aus der Schule zurück. Und das ist noch gut, am 25.11. kamen wir um fünf Uhr aus der Schule zurück, gestern um vier Uhr. Es ist nämlich so, dass es an allen diesen Tagen so kam: In der fünften Stunde ertönt drei bis fünf Minuten vor dem Kingelzeichen ein unterbrochenes Klingeln, wir ziehen uns

Weitere Kostenlose Bücher