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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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noch nicht sicher.
    Bis zum Beginn der Evakuierung sind die Tage schon gezählt. Es ist hoffentlich nicht mein Schicksal, noch zu sterben. Das ist furchtbar, jeden Moment den Tod von einer Artilleriegranate oder einer Bombe erwarten zu müssen. Die ersten Tage im Mai werden wahrscheinlich genauso schrecklich sein.
    Wie dumm und bedauerlich wäre es, direkt vor der Abfahrt zu sterben, nachdem alle Schrecken dieses Winters, der Hunger und der Frost, überstanden sind. Wie ungerecht wäre es vom Schicksal, wenn ich, die ich bis zum Frühling überlebt habe, die ich noch das frische junge Grün gesehen habe, wenn ich, die ich schon alle Sachen gepackt habe, noch umkäme.
    Ich will auf keinen Fall sterben.

    Vielleicht sind das meine letzten Zeilen. Ich bitte ­inständig: Wer dieses Tagebuch findet, der schicke es bitte an: E. N. Schurkowa, Mogilewitschgasse 5, Wohnung 1, Gorki.
    28. April
    Es ist gut, im Wartezustand zu leben. Die letzten Tage lebe ich im Wartezustand. Nein, das Warten quält mich nicht. Ich habe es nicht eilig. Ich weiß, dass alles seine Zeit hat. Ich habe ein interessantes Ereignis vor mir, ich fahre in eine andere Stadt. Erst werde ich mit dem Zug fahren, dann über den Ladogasee. Übrigens habe ich den Ladogasee noch nie gesehen. Dann wieder mit dem Zug, Umsteigen in Wologda. Und wieder mit dem Zug bis nach Gorki. Die Reise ist sehr verlockend. Unterwegs werde ich kostenlos zu essen haben und viel Brot bekommen. Das alles habe ich noch vor mir, und bis zum Beginn dieser Reise sind die Tage schon ­gezählt.
    Danach erwartet mich ein neues Leben. Die Neugier überwältigt mich. So viel Ungewisses liegt vor mir, ich möchte zu gerne wissen, was mich erwartet. Geduld, Lena, nur Geduld. Alles hat seine Zeit. Heute ist schon der 28. Morgen ist der 29., dann der 30. Wovon ich mich in diesen Tagen ernähre – das ist nicht besonders üppig.
    Heute hatte ich 300 g Brot, 50 g Fett – das war der Rest – und 150 g Weintrauben. Morgen werde ich 300 g Brot, 100 g Wurst und 75 g Käse haben. Am 30. sind es dann 300 g Brot, ein halber Liter Wein und 250 g Hering. Am 1. Mai werde ich wieder in die Kantine gehen und Brei und Suppe kaufen können, vielleicht wird am 1. auch die Brotration erhöht. Und danach fahre ich wahrscheinlich schon. Auf jeden Fall werde ich bis zur Abfahrt satt sein und nach der Abfahrt noch satter. Wie gut und froh es sich doch im Wartezustand lebt.

    Heute gab es schon zweimal Fliegeralarm. Frühmorgens und tagsüber. Der Himmel ist heute bedeckt, es ist kalt. Kein Sonnenschein. Doch die Spatzen zwitschern fröhlich. In dem kleinen Park gegenüber meinem Fenster ist der Rasen vom frischen Maigras schon ganz grün. Meine Erbsenpflanze wächst nicht täglich, sondern stündlich – eine richtige Schönheit. Aufrecht, gerade, mit grünen glatten Blättern. Auch die Zweige, die ich in das Wasserglas gestellt habe, werden bald ihr erstes Grün zeigen. Die Knospen haben sich schon geöffnet. Eigentlich wäre alles in Ordnung. Wenn nur die Deutschen nicht wären. Ihretwegen fürchte ich mich vor dem 1. Mai.
    Nun ja, lasst uns hoffen, dass es schon irgendwie gut gehen wird.
    Bald, ganz bald schon werde ich meinen Koffer nehmen, mich vorne in die Linie 9 setzen, eine Fahrkarte für mich und das Gepäck kaufen und auf bekannter Strecke durch bekannte Straßen zum bekannten Finnischen Bahnhof fahren. Und da … ein Pfiff, der Zug fährt ab. Wir fahren über die Brücke, unter der ich schon so viele Male allein und mit Mama in der Linie 20 hindurchgefahren bin. Leb wohl, Leningrad. Die Menschen an der Straßenbahnhaltestelle werden uns nachschauen. An was sie wohl denken werden? Einige werden uns wahrscheinlich beneiden, andere werden sagen: »Haut ab, dann haben wir mehr Brot.« Auf der linken Seite sind an uns gerade die Gebäude des Clara-Zetkin-Instituts für Mütter- und Kin­der­gesund­heit vorbeigehuscht.
    Ja, hier haben Mama und ich ungefähr zwei Monate gearbeitet. Dort auf dem Pfad geht ein Mädchen in weißem Kittel und mit weißem Kopftuch, in den Händen hält sie irgendwelche Papiere. Wie oft bin ich genauso wie sie jetzt diesen Pfad entlanggegangen und habe Krankenscheine verteilt. Der einzige Unterschied ist, dass es damals Winter war, alles war mit Schnee bedeckt, und jetzt ist Frühling, Mai. Dort blühen die Bäume, siehst du? Und dort an der Böschung des Bahndamms heben die ersten Blüten des Huf­lattichs ihre eleganten gelben Köpfchen. Leb wohl, Leningrad.
    Der Himmel ist

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