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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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Lebens.

    Gestern vergaß ich zu erwähnen: Als ich in der Ligowka nach Brot anstand, sah ich einen echten lebendigen Schmetterling, einen Kleinen Fuchs.
    Mein lieber unschätzbarer Freund, mein Tagebuch. Niemanden habe ich außer dir, du bist mein einziger Ratgeber. Dir vertraue ich all meine Leiden, Sorgen und Nöte an. Und von dir erbitte ich nur eines: Bewahre meine traurige Geschichte auf deinen Seiten gut auf, und später erzähl alles, wenn nötig, meinen Verwandten, damit sie alles erfahren, natürlich nur, wenn sie dies wünschen.

    Heute ging ich nach zwölf Uhr in die Kantine und nahm zwei Portionen Suppe. Es war Nudelsuppe, sie war nicht sehr dick. Ich gab einer Frau meinen Tee­löffel, damit sie Suppe essen konnte, sie hatte ihren vergessen, und sie legte mir dafür in meinen Suppenteller ein ordentliches Stück Kokosfett. Ich fischte es aus der Suppe heraus, aber die Suppe wurde trotzdem fett. Danach verdiente ich mir eine Nährmittelmarke, indem ich jemanden meinen Berechtigungsschein benutzen ließ. Von ihm ist schon lange nichts mehr abgeschnitten worden, weil ihn sich Katja von mir nie zeigen lässt. Es heißt, am 25. werde diese Kantine ganz geschlossen, weil alle mit ihr sehr unzufrieden seien. Dabei schimpfen sie zu Unrecht. Ich bin mit dieser Kantine vollkommen zufrieden. Auch die Kellner sind hier meiner Ansicht nach sehr nett. Ich blieb lange in der Kantine, bis um zwei Uhr. Dann ging ich in die Ligowka in die Teestube und kaufte dort mein Brot. Nur dort kann man immer bis zu zwei Tage im Voraus kaufen. Deshalb sind dort große Warteschlangen, weniger wegen des Tees als wegen Brot. Das Brot war dort sehr gut und reichhaltig. Den Rückweg nahm ich über den Newski-Prospekt und ging ins Lebensmittelgeschäft. Da waren ganz wenige Leute. Ich machte es mir ein einer Ecke gemütlich und aß Nudeln von beiden Tellern mit Butter und Brot, wie es sich gehört. Schließlich gelangte ich zur Teestube in der Rasjesschajastraße. Ich stellte mich ans Ende der langen Warteschlange. Es war halb vier, die Teestube öffnete um vier. Die Leute warteten natürlich nicht wegen des Tees, sondern weil man 50 g Zucker für die fünfte Marke bekommen konnte, die ich nicht habe. Wie dem auch sei, ich musste trotzdem ziemlich lange in der Schlange stehen, und als ich endlich meine zwei Gläser Tee bekam, hatte ich noch ein kleines Stückchen Brot übrig, das ich in zwei Hälften schnitt und, mit dem restlichen Fett beschmiert, ­sofort ganz aufaß.
    Ich verließ die Teestube mit dem Bauch voller Flüssigkeit und in dem Bewusstsein, das nichtigste und unglücklichste Geschöpf auf der ganzen Welt zu sein. Mit diesem sehr trübseligen Gefühl ging ich dorthin, wo früher der Evakopunkt gewesen war. Hier war es leer und still. Ich setzte mich auf eine Bank und konnte mein lautes Weinen nicht länger unterdrücken. Nachdem ich mich ausgeweint hatte, begegnete ich beim Ausgang einer Frau, die mir auf meine Frage, wann man sich wieder anmelden könne, antwortete: »Kommen Sie Anfang Mai wieder.«
    Und so schwand die letzte Hoffnung für immer, dass ich noch irgendwie im April hier herauskommen könnte.
    O Gott. Bis zum Mai sind es noch acht Tage. Und was für furchtbare, hungrige Tage.
    Vor mir liegt das Telegramm: »Fahr los. Njura. Schenja.« Die Tränen schießen aus den Augen. Njura … Schenja. Das sind lebendige Menschen, die mich kennen, die nicht nur mich, sondern auch mein Leiden kennen, alles wissen. Sie lieben mich, sie machen sich um mich Sorgen. Sie sind meine Verwandten, unter all den Fremden reichen sie allein mir die warme helfende Hand. Aber diese Hand ist so weit, so weit weg. Und im Moment kann ich mich nicht zu ihnen durchschlagen. Deshalb muss ich weinen, dass es mir den Atem nimmt.
    Alle, die mir helfen könnten, sind so weit von mir weg. Grischa 112 . Wenn er in Leningrad wäre, würde er mir etwa nicht helfen? Natürlich würde er mir helfen. Er würde mir Geld geben, davon hat er jetzt viel. Und Kira würde mir helfen. Aber sie sind alle weit weg. Weit weg und können mir jetzt nicht helfen. Aber ich brauche ihre Hilfe. Ich brauche sie gerade jetzt so sehr. Bis zum 1. Mai. Ich brauche Hilfe, um bis zum 1. Mai zu überleben. Aber dabei wird mir niemand helfen.
    Fahr los! Welch wunderbare Wärme liegt in diesen Worten. Fahr los! Ihr Lieben, wann werde ich euch treffen? Diese letzten Tage, die ich noch hier in Leningrad lebe, lebe ich nicht mehr, ich schleppe mich mühsam dahin. Ich trage an jedem Tag

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