Lenas Tagebuch
Gegenteil, sie hat versprochen, mich mit Tee zu bewirten.
30. April
Nach elf Uhr ging Lena zur Schakt, um ihre Lebensmittelkarte zu holen. Aber es gelang ihr an diesem Tag nicht, die Karte zu erhalten. Die Hauswartfrau, Tatjana Wjatscheslawowna, dachte, Lena hätte Arbeit gefunden, und hatte sie nicht in die Liste der Familienangehörigen eingetragen. Man sagte ihr, sie solle um fünf oder sechs Uhr abends wiederkommen. Lena ging ins Geschäft, wo sie zu ihrer großen Betrübnis erfuhr, dass Bier und Hering gerade zu Ende gegangen waren. Der Leiter versprach, dass es abends Bier geben würde, Heringe würden aber nicht mehr hereinkommen, nehmen Sie das, was es gibt. Und Lena kaufte 250 g gesalzene Brasse. Sie bekam fast eine ganze Brasse, nur die Schwanzflosse schnitt man ab.
Lena kam nach Hause und begann mit großem Genuss, den Fisch zu essen. Die Brasse erwies sich als fett und ungewöhnlich lecker. Lena entschied zuerst, eine Hälfte und abends die andere mit Brot zu essen. Dann aber, als die erste Hälfte aufgegessen war, machte sie sich mit noch größerem Appetit an die andere. Das war eine hervorragende Beschäftigung; sie dauerte ungefähr drei Stunden. Natürlich hatte Lena nach so viel Salzigem, noch dazu ohne Brot, fürchterlichen Durst und trank fast einen ganzen kupfernen Teekessel Wasser aus, das sie nicht abgekocht hatte. Danach ging sie in die Teestube, wo ihr vier Gläser Tee in ihr Einmachglas gefüllt wurden. Sie ging nach Hause, trank den heißen Tee und aß die restlichen Stückchen Fisch anstelle von Brot. Danach legte sie sich hin und schlief ein Stündchen. Nachdem sie aufgewacht war, ging sie wieder in den Laden, um Bier zu holen, es war aber keines da, sie erhielt Salz und schaute auf dem Heimweg bei der Schakt vorbei. Doch dort hing ein Vorhängeschloss. Es war schon etwa sechs Uhr abends, Lena stellte sich nach Bier an und wartete gemeinsam mit anderen Leuten bis elf Uhr. Um elf wurde verkündet: Selbst wenn noch Bier geliefert würde, würde es erst morgen früh verkauft werden. Erschöpft und taumelnd ging Lena nach Hause. Es war eine mond- und sternklare Nacht. »Was wird wohl morgen für ein Tag sein?«, dachte Lena, als sie sich in ihre Decke wickelte.
Um zwölf Uhr wurde Radio Moskau eingeschaltet, und die Leningrader hörten wieder das Moskauer Glockenspiel und das Schlagen der berühmten Turmuhr vom Kremlplatz. Wie lange hatten die Leningrader diese vertrauten Klänge nicht gehört, und wie angenehm war es, sie wieder zu vernehmen. Nach der »Internationale« schlief Lena hundemüde ein und schlief bis zum Morgen durch.
Ich habe jetzt entschieden, mein Tagebuch auf neue Weise zu schreiben. In der dritten Person. Wie eine Erzählung. Ein solches Tagebuch wird man wie ein Buch lesen können.
1. Mai 1942
Heute ist der Erste Mai. Um sechs Uhr früh ging Lena natürlich nicht Bier holen. Heute schlief sie am Morgen besonders tief und fest. Aber später stand sie dann doch auf und gelangte zu dem Schluss, dass es schade sei, das Bier auszulassen.
Lena ging auf die Straße, der Himmel war wolkenlos und sonnenklar. Die farbenfrohen Fahnen ließen die Straße elegant erscheinen. Es war, als ob jeden Augenblick das Orchester zu spielen begänne und die Marschkolonnen um die Ecke biegen würden. Aber nein, heute war ein gewöhnlicher Arbeitstag. Nein, es ist gerade ein ungewöhnlicher Arbeitstag. In diesem Jahr haben die Werktätigen aus eigenem Antrieb auf den arbeitsfreien Feiertag verzichtet und aus dem Maifeiertag einen Tag der Arbeit und des Kampfes gemacht 117 .
Im Geschäft gab es kein Bier, es war doch nicht aus dem Lager geliefert worden. Lena ging nach Hause, schlafen wollte sie schon nicht mehr, also hörte sie Radio. Sie hatte großen Hunger, aber wann wird sie heute ihre Lebensmittelkarte bekommen? Vielleicht erst am Abend. Das macht nichts, sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie heute Abend 600 g Brot haben würde. Und falls Rosalija Pawlowna ihr bis fünf Uhr einen Berechtigungsschein für die Kantine beschaffen kann, wird sie nur für den heutigen Tag Brot holen und aus Anlass des Feiertags in der Kantine mehr nehmen. Für diesen Fall nahm sich Lena vor, drei Portionen Brei zu nehmen, eine Suppe und ein Fleischgericht.
Im Radio wurde ein Kampflied nach dem anderen gesendet, Märsche, neue Parolen und Gedichte erklangen.
Lena erinnerte sich an den 1. Mai des letzten Jahres. Von der Schule waren sie zur Borodinskajastraße gegangen und dort
Weitere Kostenlose Bücher