Lenas Tagebuch
und sie konnte deshalb nicht gehen. Lena blieb ein wenig an Oljas Bett sitzen. Das große halbdunkle Zimmer, das mit teuren Möbeln eingerichtet war, gefiel ihr nicht. Hier war es sehr finster und kalt. Lena lieh sich bei Olja das Buch »In den Bergen des Sichote Alin« 120 aus und ging in den Park. Nach Hause wollte sie nicht gehen. Draußen war es sehr schwül, der Park war voller kleiner Kinder. Ihr lautes Rufen und Lachen war in der ganzen Straße zu hören.
Lena setzte sich auf eine Bank und versuchte zu lesen, aber es gelang ihr nicht, also sah sie den Kindern zu, beobachtete deren fröhliches Gerenne. Lena dachte, dass diese Kinder, die jetzt so klein waren, in ihrem, Lenas, Alter glücklicher sein würden als sie und dass überhaupt ihre Jugend eine lichte und glückliche werden würde. Sie werden all das nicht durchmachen müssen, was Lena nun durchmachen musste. Ihre Eltern werden nicht sterben, ja, sie werden glücklicher sein.
Die Sonne verschwand hinter Wolken, es frischte auf. Lena kehrte nach Hause zurück und kochte sich auf dem Petroleumkocher Tee. Dieser Kocher war schon lange nicht mehr benutzt worden. Lena trank eine Tasse heißen Tee und aß Brot dazu und kochte dann Fischbrühe. Sie hatte noch die Reste einer Brasse, die Gräten, Schuppen und so weiter, sie hatte das alles in einer Blechbüchse gesammelt und kochte es aus. Es wurde daraus eine hervorragende Brühe, und so trank Lena eine ganze Tasse kräftiger, sehr leckerer Fischbrühe. Dann flickte und putzte Lena ihre Schuhe. Man muss doch anständig angezogen sein, wenn man unter die Leute geht. In der grimmigen Kälte dieses Winters hatten sich die Leute nicht um ihr Aussehen gekümmert. Aber jetzt war es anders. Nun kamen die warmen Frühlingstage, und die Leute begannen, sich herauszuputzen und um ihr Aussehen zu kümmern, vor allem die Jugendlichen. Modische Frisuren und Hüte tauchten wieder auf, die Männer trugen Anzüge, elegante Schals, und auch Lena wollte sich besser und eleganter anziehen. Nun fand sie es unangenehm und betrüblich, Leute zu sehen, die sich vernachlässigten und nach wie vor in irgendwelche Lumpen hüllten. Aber das waren zumeist Alte, sie waren ausgezehrt und litten an allerlei Krankheiten. Lena jedoch, auch wenn sie sich in den letzten Tagen kaum vom Fleck hatte rühren können, war eine junge Frau und widmete ihrem Aussehen sehr große Aufmerksamkeit. Ich sollte mich eleganter anziehen, sagte sie sich. Sie war betrübt, dass ihre Haare so langsam wuchsen, ohne Haare sieht man nicht gut aus. Haare schmücken sehr. Wie sie sich zu Hause im Spiegel betrachtete, bemerkte Lena zufrieden, dass ihr Gesicht nicht so schrecklich aussah, wie sie zuvor geglaubt hatte. Ihre Figur war wirklich sehr dünn geworden, sie war nur noch Haut und Knochen, von ihrem üppigen Busen war nichts mehr übrig. Lena hatte einst davon geträumt, so dürr zu sein wie Lida Klementjewna, da hatte ihr üppiger Busen ihr gar nicht gefallen, aber nun war sie noch viel dürrer als Lida.
Der heutige Tag verlief ruhig – kein Fliegeralarm, kein Beschuss.
3. Mai
Heute zogen gleich am Morgen Wolken auf, und der Feind ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Noch vor neun Uhr gab es zweimal Fliegeralarm. Aber beide waren nicht von langer Dauer und harmlos. Direkt nach den Sirenen begann unsere Flak zu schießen, ließ dann allmählich nach, und am Himmel ertönte das kräftige Brummen unserer Falken. Die Erde bebte nicht ein einziges Mal, das bedeutet, die Feinde hatten gar keine Bomben abgeworfen. Vielleicht hatte es der Feind gar nicht bis über die Stadt geschafft.
Lena stand auf, nachdem der zweite Alarm abgeblasen war. Diese Nacht hatte sie hervorragend geschlafen, sie hatte schöne Träume gehabt. Sie ging rasch Brot holen, trank eine Tasse kalten Tee und wartete auf Tante Sascha, die sie um eine Schüssel und einen Eimer bitten wollte. Es war schon halb zwölf, Tante Sascha war noch immer nicht gekommen, und Lena ging in die Kantine. In der Kantine waren viele Leute, aber das Wichtigste war, dass Essen nur auf neue Berechtigungsscheine ausgeteilt wurde. Lena erblickte in der Warteschlange ihre Freundin, mit der sie in der letzten Zeit zusammen zur Schule gegangen war. Sie holte ihr mit ihrem Berechtigungsschein eine Portion Sojabrei und zwei Fleischbällchen. In der Kantine bekam man schon Brot für den 5. Mai. Lena konnte sich nicht beherrschen und nahm noch 300 g Brot. Sie ging nach Hause, aß sogleich, wärmte
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