Lenas Tagebuch
Wasser auf, wusch sich, zog saubere Kleidung an und ging zur medizinischen Untersuchung in die Schule. Draußen war es kühl, ein Nieselregen ging nieder, der Himmel war völlig zugezogen. Lena musste für die Untersuchung eine Stunde in der Warteschlange stehen. Schließlich kehrte Lena mit dem Attestat »gesund« in der Hand nach Hause zurück, kochte sich zwei Tassen Tee, schnitt ihr restliches Brot in Stücke und belegte sie mit den restlichen Stückchen Fleischbällchen. Das war sehr lecker. Morgen beginnt der Unterricht, aber in Lenas Schule erst am 5. Morgen wird um vier Uhr ein Treffen aller Schüler stattfinden. Im Radio hörte Lena eine Sendung für die Schüler, in der sie viel erfuhr. So zum Beispiel, dass der Schulalltag ganz neu organisiert werden sollte. Die Schüler werden die meiste Zeit des Tages in der Schule sein, aber weniger Unterricht haben als zuvor. In den höheren Klassen wird der Schultag bis halb sechs gehen, aber es wird nicht mehr als fünf Unterrichtsstunden geben. Der Unterricht wird um neun Uhr beginnen, um zwölf Uhr wird es Frühstück geben. Die Schüler bekommen heißen süßen Tee und Brei, danach kommt wieder Unterricht, dann eine Stunde Pause. Mittagessen bekommen die höheren Klassen um vier Uhr. Nach dem Essen werden noch Arbeitskreise stattfinden. Um halb sechs geht es nach Hause, wobei uns 100 g Brot, ein wenig Fett und Zucker mitgegeben werden. Im Unterricht wird nur der Stoff des letzten Schuljahres wiederholt. Die Schulzeit dauert bis zum 1. Juli. Im Sommer fahren alle Schulkinder in eigens eingerichtete Pionierlager, wo sie sich erholen, spielen und in verschiedenen Sowchosen im Gemüseanbau arbeiten werden.
Lena gefiel das alles sehr, und sie wäre gerne in ihrer angestammten Schule geblieben, wenn sie hier mit Verwandten gelebt hätte. Da fiel ihr wieder ein, dass sie hier niemanden hatte, und ihr wurde schwer ums Herz. Nein, sie musste wegfahren. Vielleicht wird sie in Gorki schlechter verpflegt werden, als wenn sie hierbliebe, aber trotzdem wird sie fahren müssen. Selbst wenn ihr die Kosten für Unterricht und Verpflegung erlassen werden 121 , Rosalija Pawlowna hat ihr versprochen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, doch selbst dann wird sie auf alles verzichten und zu Schenja fahren.
Schenja macht sich wahrscheinlich auch jetzt Sorgen um Lenka und wartet darauf, dass sie endlich aus Leningrad zu ihr kommt. Und Lena steckt noch immer in Leningrad fest. Aber heute ist schon der 3. Mai. Jeden Tag kann die Evakuierung beginnen, und jetzt erst steht Lena vor der quälenden Frage: Soll sie so bald wie möglich fahren, wenn die Evakuierung beginnt, oder erst noch eine Woche zur Schule gehen und Kräfte sammeln. Lena entschied, mit Tonja 122 zusammen zu fahren, derselben, die ihr heute in der Kantine das Essen geholt hatte. Tonja und ihre Mama wollen nämlich auch wegfahren, ihr Papa hat ihnen einen Brief geschrieben, er kämpft an der Front und rät ihnen, möglichst schnell Leningrad zu verlassen, denn dort würden sie noch viel durchmachen müssen. Deshalb möchte Lena mit Tonja und ihrer Mama fahren, das sind immerhin Bekannte, und zu dritt ist es besser als allein. Nur eines verdross Lena. Nehmen wir an, sie gab am 5. ihre Lebensmittelkarte in der Schule ab, und ab dem 5. werden Nährmittel, Fett und Zucker ausgegeben. Und dann beginnt die Evakuierung am 8. oder 9. Was passiert dann: In den paar Tagen wird Lena in der Schule nicht so viel Zucker und Fett bekommen, wie sie im Geschäft hätte erhalten können, ohne die Karte in der Schule abzugeben. Das im Voraus zu wissen war unmöglich. Dabei sollten ihr [Marken für] 200 g Fett und 300 g Zucker bleiben. Vielleicht bleiben in der Schule nur die Marken für die erste Ausgabe, dann könnte Lena direkt vor der Abfahrt noch im Geschäft Zucker und Fett kaufen und bis dahin in der Schulkantine essen. Vielleicht kann ihr die Schule auch einen Berechtigungsschein ausstellen, mit dem sie im Geschäft 200 g Fett und 300 g Zucker sofort bekommt. Das wäre das Beste, dachte Lena: Bis zur Abfahrt in der Schulkantine essen und direkt vor der Abfahrt, sozusagen für unterwegs, 200 g Fett und 300 g Zucker bekommen. Mehr könnte sie nicht erträumen.
Aber der Traum war das eine, und das andere ist die Wirklichkeit. Und so entschied Lena, dass sie einfach abwarten würde, anstatt sich den Kopf über die unbekannte Zukunft zu zerbrechen.
Heute war irgendwie ein schwermütiger und feuchter Tag, aber Lena war gut
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