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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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gegeben, dass das Stadtviertel beschossen werde. Nach der Meldung über das Ende des Beschusses begann die Übertragung eines Konzerts, die aber plötzlich abbrach. Das Radio verstummte. Lena hörte interessanterweise während der ganzen Zeit des Beschusses nicht eine einzige Salve, keinen einzigen Schuss. Zwar schoss vereinzelt die Flak, aber was sollte das denn für ein Beschuss sein? Sonderbar. Lena beschloss, morgen nach der Schule mit Tonja zum Evakopunkt zu gehen, um vielleicht Neuigkeiten zu erfahren. Danach wollte sie Brot kaufen und in der übrigen Zeit wieder stopfen und nähen. Sie musste sich beeilen, jederzeit konnte die Evakuierung beginnen. Sie musste schnell alles in Ordnung bringen und alle ihre Sachen packen, um für die Abfahrt bereit zu sein. Damit sie sofort, wenn die Evakuierung beginnt, sich anmelden und wegfahren kann, ohne einen Tag zu verlieren. Denn das ist ihr einziges Ziel: möglichst schnell zu Schenja nach Gorki zu kommen. Der Unterricht beginnt erst am 15. Mai. Höchstwahrscheinlich wird Lena vorher fahren. Die Verpflegung soll ab dem 8. Mai beginnen. Das betrübte sie sehr. Noch zwei Tage wird sie nur mit Brot auskommen müssen. 300 g Brot, das reicht natürlich nicht aus, um auch nur ein bisschen satt zu sein. Aber anders geht es nicht. Lena hat ihre Marken genau gezählt und ist sich ganz sicher: Wenn sie in diesen zwei Tagen noch etwas in der Kantine nimmt, gibt sie zu viele Nährmittelmarken her und riskiert, in der Schule kein Mittagessen zu bekommen. Auf der Versammlung in der Schule hat man die Schüler eigens davor gewarnt.
    Wenn die Evakuierung doch nur morgen begänne. Dann würde Lena schon am 7. fahren und ihren Hunger um einen Tag verkürzen. Doch nein, das sind nur Träume. Ich muss versuchen, nicht ans Essen zu denken, sagte sich Lena, als sie die Übelkeit in ihrer Kehle aufsteigen fühlte und die widerliche Leere in ihrem Magen verspürte. Aber wie sollte man nicht ans Essen denken, wenn bei den Nachbarn nebenan der Pe­tro­leum­kocher rauscht und der Topfdeckel klappert. Lena hört durch die Wand den Klang der Löffel und Messer und kann sogar das Geräusch hören, das beim Abschnei­den einer Scheibe Brot entsteht.
    Qualvoll ist es, zu hungern und nur das Wasser schlucken zu können, das einem im Munde zusammenläuft.
    6. [Mai]
    In der Nacht hat es geschneit, aber der Schnee ist nicht liegen geblieben. Es war bewölkt, der gleiche kalte Wind wie gestern, aber ein wenig wärmer. Am Morgen aß Lena ihr Brot und las ein Buch. Olja sagte zu Unrecht, das Buch sei nicht interessant. Lena gefiel es sehr. Sie mag genau solche Bücher am meisten, wie »In den Bergen des Sichote Alin«. Um zwölf ging Lena zur Schule. Die Versammlung der Schüler der höheren Klassen (8, 9 und 10) fand im Zimmer des Direktors statt. Es waren nur 15 Schüler erschienen. Von denen, die Lena kannte, waren nur Nina, Galja Kusnezowa und Mischa Iljaschew da. Wowa war nicht gekommen. Der Direktor leitete die Versammlung. Er erklärte, dass der Unterricht am 15. beginne und dass die Schüler der höheren Klassen die ganze Arbeit zum Schutz der Schule vor feindlichen Luft­angrif­fen zu übernehmen hätten. Mit einem Wort, sie allein waren die Beschützer der Schule. Er teilte alle Anwesenden sofort in Gruppen auf. Lena und Nina kamen in die Fernmeldegruppe. Außerdem verkündete der Direktor, sie würden alle ab 8. Mai als Mitglieder der Selbstverteidigungsgruppe registriert und sollten am 10., mit dem Beginn der Verpflegung, ihren Dienst antreten.
    Man kann sich leicht vorstellen, welchen Eindruck diese Neuigkeiten auf Lena machten. Die Verpflegung wird nicht am 8. beginnen, sondern erst am 10. Und es ist Fernmeldedienst zu leisten, obwohl sich Lena kaum auf den Beinen halten kann. Tatsächlich war Lena in den letzten Tagen sehr schwach geworden. Der Aufstieg in den vierten Stock bedeutete für sie eine enorme Anstrengung, für die sie ihre letzten Kräfte aufbringen musste. Die letzte Treppe konnte sie gerade noch hinaufkriechen, indem sie sich am Geländer hochzog. Wenn sie hinausging, und sie versuchte so selten wie möglich die Wohnung zu verlassen, aber wenn sie schon die Straße entlanggehen musste, so bemühte sie sich, schnell zu gehen, fast im Laufschritt, denn wenn sie langsam ging, verhakten sich ihre Beine, und da konnte man schnell hinfallen.
    Von der Schule ging Lena sofort zur Kantine. Heute fiel ihr das Gehen besonders schwer. Lena schwankte wie eine Betrunkene und stolperte oft.

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