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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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gelaunt. Der 1. Mai hingegen war so ein schöner Tag, und da war es Lena ganz im Gegenteil schwer ums Herz.
    4. Mai
    Heute ist ein ungewöhnlich kalter, bewölkter Tag. Es weht ein eisiger, starker, stürmischer Wind. Er geht durch Mark und Bein, und die Böen sind so stark, dass es schwer ist, sich gegen den Wind vorwärts zu be­wegen. Bei solchem Wetter willst du zu Hause bleiben und nicht öfter auf die Straße gehen als nötig. So hielt es auch Lena. Sie rannte nur in die Kantine, aß dort Kohlsuppe und Hirsebrei. Brot konnte sie nicht kaufen, weil für den 6. Mai noch keines ausgegeben wurde. Aus der Kantine rannte sie zur Schule. Dort hatte die Versammlung schon begonnen. Lena erfuhr traurige Neuigkeiten. Erstens, dass der Unterricht erst am 15. Mai beginnen und das Schulessen erst ab dem 8. Mai ausgeteilt würde. Zweitens, dass die Schüler der höheren Klassen nur 400 g Brot und nur 30 g Fett am Tag erhalten würden. Lena traf Mischa Iljaschew. Er war gar nicht wiederzuerkennen, richtig schrecklich sah er aus. Außer Tonja war sonst niemand aus der 9. Klasse dort. Sie verabredete mit Tonja, dass sie, wenn die Evakuierung vor dem 15. Mai begänne, gleich in den ersten Tagen fahren würden.
    Lena ging nach Hause, kochte aus dem übrigen Brei etwas Suppe und setzte sich dann hin, um ihre schwarzen Seidenstrümpfe zu flicken. Sie muss sich beeilen. Denn jeden Tag kann die Evakuierung beginnen, und sie hat noch viel zu tun. Sie muss noch alles, was sie mitnehmen will, nähen, stopfen und waschen. In diesem Winter hatten sie und Mama sich sehr gehen lassen, hatten sich vernachlässigt. Aber das war im Winter, bei Frost, und jetzt ist Frühling. Jetzt war es peinlich, schmuddelig und abgerissen herumzulaufen, mit schmutzigen Händen.
    Das Wichtigste aber: Lena ist ein junges Mädchen. Und der größte Reichtum eines Mädchens ist ihre seelische und körperliche Sauberkeit. Das sagte Rosalija Pawlowna gestern zu Lena, als sie sich am Abend zu zweit in ihrem Zimmer unterhielten. Lena war mit Rosalija Pawlowna vollkommen einer Meinung. »Deine Tante Schenja wird sich ganz anders zu dir verhalten, wenn du zwar nur wenige und alte Sachen dabeihast, wenn du zu ihr kommst, diese aber sauber, geflickt und gestopft sind, wenn an deiner Kleidung keine Knöpfe fehlen und deine ganze Erscheinung adrett ist. Sie wird dich voller Hochachtung ansehen und denken: ›Dieses Mädchen hat so viel durchgemacht und sich trotzdem ein menschliches Erscheinungsbild bewahrt‹«, so sagte ­Rosalija Pawlowna.
    Und Lena wollte genauso vor Schenja erscheinen und es sich vom ersten Tag an zur Gewohnheit machen, in allen Dingen ordentlich zu sein und sauber und ­adrett auszusehen. Lena wollte sich bescheiden kleiden, aber mit Geschmack.
    »Ein guter Mann wird niemals ein schlampiges Mädchen liebgewinnen. Echte, gute Männer schätzen an einer Frau ebendiese Eigenschaften: körperliche und seelische Sauberkeit. Ein Mädchen muss in ihrem Zimmer Ordnung halten, nirgends darf ein Staubkorn sein, alles muss glänzen. Die Vorhänge am Fenster, mögen sie auch geflickt und aus billigstem Stoff sein, wenn sie blitzsauber sind, wird er das höher schätzen als die ­teuerste, aber schmutzige und zerrissene Portiere.« Lena war auch damit vollkommen einverstanden.
    Zum Abend klarte es etwas auf, und die Sonne lugte unmittelbar vor ihrem Untergang zwischen den Wolken hervor. Der Sonnenuntergang war heute wunderschön, als ob lodernde Feuerzungen den Himmel am Horizont erleuchteten.
    5. Mai
    Heute aß Lena den ganzen Tag nur Brot. Dennoch verspürte sie keinen quälenden Hunger, denn sie saß den ganzen Tag in ihrem Zimmer auf dem Bett und stopfte Socken. Morgens hatte sie noch Brot geholt und es um ein Uhr aufgegessen, danach machte sie sich an ihre Socken, sortierte die heilsten aus, die sie mitnehmen wollte, und machte sich ans Stopfen. Es kamen viele ­gestopfte Socken zusammen.
    Heute war es seit dem Morgen sonnig, aber kalt. Eigentlich war es warm, aber dieser kalte Wind drang durch alles hindurch. Am Abend war der Himmel wolkenlos. Am Tage kam jemand aus der Schule mit der Nachricht, morgen um zwölf Uhr werde in der Schule eine Versammlung für die höheren Klassen stattfinden. Lena unterschrieb und schaute in der Namensliste nach. Tamaras Namen fand sie nicht, dafür aber Wowkas. Darüber freute sie sich, morgen würde sie ihn wiedersehen.
    Lena ärgerte sich über das Radio. Kurz vor zwölf wurde die Sendung unterbrochen, dann wurde bekannt

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