Lenas Tagebuch
Sie machte bestimmt keinen guten Eindruck. In der Kantine waren nicht viele Leute. Lena vereinbarte beim Schlangestehen mit ihrer Nachbarin, die einen Einlassschein besaß, dass diese ihr eine Portion Brei hole. Doch einige Minuten später kam Nina. Ihre Mutter, so stellte sich heraus, hatte noch keinen Zutritt zur Kantine. Lena stellte sich bei der Essensausgabe an. Nina bestellte für Lena zwei Nudelsuppen. Unmittelbar vor der Ausgabe konnte Lena eine Nudelsuppe gegen einen Erbsbrei tauschen. Nina ließ sich zwei Portionen Nudelsuppe geben. Von der Kantine eilten sie zum Evakopunkt, denn ihre Nachbarinnen in der Warteschlange hatten erzählt, die Evakuierung beginne am 10., vielleicht sogar schon am 7., und man könne sich schon seit dem 5. anmelden. Die Mädchen fassten neuen Mut und eilten aufgeregt zum Evakopunkt. Wie groß war ihre Enttäuschung. Im Gebäude des Evakopunkts war keine Menschenseele, völlige Leere, keinerlei Aushänge, nichts. Lena ging nach Hause, aß etwas von den kalten Nudeln und vom Erbsbrei, zündete den Petroleumkocher an und kochte sich einen Topf Suppe. Die Suppe gelang ihr gut. Lena aß einen halben Topf und entschied, die andere Hälfte für morgen aufzuheben. Aus ihrem Plan nahm sie zwei Hauptgerichte heraus und beschloss, morgen nicht in die Kantine zu gehen.
Nach dem Essen überkam Lena große Müdigkeit, sie wurde apathisch. Sie wollte sich weder rühren noch an etwas denken noch etwas tun. Selbst mit einen Finger zu wackeln war schwer. Aber Lena war sich im Klaren darüber, dass ihr nun die entscheidenden Tage bevorstanden. Wenn schon von der Evakuierung geredet wird, dann wird es auch bald losgehen. Sie musste sich mit dem Packen beeilen. Außerdem war sie gestern Abend bei Jakow Grigorjewitsch gewesen. Sie hatte mit ihm vereinbart, dass er ihr am 6. abends mitteilen würde, ob er ihre Möbel und anderen Sachen kauft, und wenn er sich dazu entschließt, wollten sie das Ganze am Donnerstag, dem 7., erledigen. Er hat an dem Tag frei.
Heute Abend wird Lena zu ihm gehen, ihren kleinen Ofen mitnehmen und alles von ihm erfahren.
Jakow Grigorjewitsch hatte darum gebeten, dass Lena alles, was sie mitnehmen wollte, beiseitelegte und die restlichen Sachen zum Teil in eine Truhe, zum Teil in ein Bündel packe. Und so überwand Lena ihre Apathie, zwang sich, sich zu bewegen, auch wenn ihr das sehr schwerfiel. Danach verspürte Lena einen großen Durst, die Suppe war ziemlich salzig gewesen. Sie fand die Kraft, Wasser zu holen. Lena kochte das Wasser im Teekessel auf und belohnte sich für ihre Mühen mit einem heißen, starken Tee. Lena hat noch viel Arbeit vor sich. Sie muss einen Waschtag abhalten, denn der Großteil der Wäsche, die sie mitnehmen will, ist schmutzig. Dann muss sie weiter stopfen und nähen.
Der 10. Mai. Das war das Datum, mit dem sie nun große Hoffnungen verband. Natürlich beschloss sie nun, sich von der Schule abzumelden. Ja, bald, bald schon wird sie sich von Leningrad verabschieden. Lena hatte gehört, dass bereits Fett ausgegeben werde. »Morgen werden sie wahrscheinlich Zucker ausgeben«, dachte sie, und ihr lief schon das Wasser im Munde zusammen bei dem Gedanken, dass sie bald richtigen Tee mit Konfekt trinken und Brot mit Fett essen würde.
Lena entschied, morgen früh gleich zum Evakopunkt zu laufen, alles in Erfahrung zu bringen, dann mit Jakow Grigorjewitsch handelseinig zu werden, danach zwei Eimer Wasser zu holen, Feuerholz klein zu sägen und ihre Wäsche zu waschen. Am 8. wird sie gegen ein Uhr in die Schule gehen und sich abmelden, dort wird sie auch Nina treffen und mit ihr die weiteren Schritte besprechen.
7. Mai
Lena stand ungefähr um zehn Uhr auf. Zuerst ging sie in ihr Geschäft und erhielt 90 g Sonnenblumenöl. Von dort ging sie zum Evakopunkt. Dort sagte man ihr, sie solle am 10. wiederkommen. Lena ging in die Bäckerei, kaufte 300 g Brot und kehrte nach Hause zurück. Sie hatte sich gerade das Frühstück gemacht, da klopfte es an der Tür: Die Schakt schickte ihr einen Gestellungsbefehl. Das Kriegskommissariat befahl Lena, um elf Uhr vor der Kommission zu erscheinen. Lena aß so schnell, dass die Brotkrümel in alle Richtungen flogen und das Öl auf den Boden und den Mantel tropfte, und machte sich mit dem Befehl zum Kriegskommissariat auf den Weg. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, warum sie vorgeladen wurde und was das für eine Kommission sei.
Im Kommissariat erklärte man Lena, sie sei in die Gruppe Lokale Luftabwehr
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