Lenke meine Fuesse Herr
Jane her, als sei ich einen Meter neben mir selbst.
Sie führt mich in das erste Haus nach der Treppe, im Erdgeschoss ein langer Tresen, leer, dann in den ersten Stock. Hinter einem Tisch sitzt eine Studentin, nimmt meinen Pilgerpass in Empfang. Sie blättert das Leporello durch, sagt auf Englisch: „The longest walk today, almost three month!“ Sie beginnt auf einer Liste von Vornamen nach der lateinischen Version von „Christian“ zu suchen und schreibt auf meinen Rat hin brav „Christianus“ auf die Urkunde, die in lateinischer Sprache bescheinigt, dass ich zum Grab des Apostels Jakobus in Santiago gepilgert sei. Mit einem routinierten Händedruck gratuliert sie mir. Am Ausgang des Saales verkauft man mir für einen Euro eine Pappröhre, in der ich das kostbare Dokument verstauen und unbeschädigt in meinem Rucksack nach Hause bringen kann.
Draußen auf der Straße fragt mich Jane: „Weißt du schon, wo du heute Nacht schläfst?“ Ich antworte, dass ich mir ein Privatquartier suchen wolle, von Herbergen hätte ich erst einmal genug. Da tritt eine kleine alte Spanierin auf mich zu und fragt, ob ich ein Zimmer suche. „Si!“, sage ich, „para dos noches!“ Zwanzig Euro pro Nacht, sagt sie und ich sage: „ Lo tengo!“ — und als ich mich umsehe, ist Jane verschwunden. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Die Spanierin führt mich quer durch die Innenstadt — die Frau singt noch immer ihre Opernarien — in eine stille Nebenstraße, ein schmales Haus, einen Stock hoch, ein herrliches Zimmer auf die stille Straße, nur gegenüber ein Restaurant, doch von dem hört man nichts, ein wunderbares Bad, eine schöne Küche. Ich zahle für zwei Tage, sie drückt mir den Schlüssel in die Hand: „Wenn du gehst, einfach stecken lassen“, und eine Visitenkarte.
Ich falle ins Bett, ungeduscht, und schlafe traumlos.
Samstag, 31. Juli 2005
Santiago de Compostela Ruhetag
Ich frühstücke in einer kleinen Bar und dann mache ich mich auf zur Kathedrale. Das Pilgerbüro ist schon umlagert — ich bin froh, dass ich gestern Abend hier war, der Trubel lässt mich bald flüchten. Ich streife durch die Altstadt — schön und lebendig, viele junge Leute!
In der Kathedrale führe ich all die gebräuchlichen Riten durch: Ich lege meine Stirn an die Stirn der Statue des Baumeisters am Eingangsportal und meine Hände in die von tausenden von Pilgern vertieften Rillen — ich muss Schlange stehen, doch Pepe, der mich stürmisch begrüßt hat, besteht darauf, dass ich alle Rituale haarklein erfülle. In der Krypta unter dem Altar liegt in einem winzigen silbernen Sarkophag das, was man für die sterblichen Überreste des Apostels Jakobus hält — die Gläubigen küssen den Sarg — ich verkneife es mir — doch oben im Obergeschoß des Altars umarme ich doch wie alle anderen die Büste des Apostels. Ich streife durch die Kathedrale, staune, schaue, ärgere mich über den unbeschreiblichen Trubel, der hier herrscht, das Blitzlichtgewitter. Es wird Zeit für die Pilgermesse — eine pompöse Zeremonie, aber mich berührt sie nicht sonderlich — nicht einmal, als ich meinen Namen höre — aha, da wurden die „Weitpilger“ genannt. Das Riesenweihrauchfass hat heute Ruhetag — stört mich auch nicht. Ich streife durchs Museum — beeindruckend, dieser Rückblick auf 2000 Jahre! Doch besonders rührt mich eine Marienstatue an: Maria stillt ihr Kind! So etwas habe ich noch nie gesehen!
Ich stehe am Andenkenladen oben auf der Treppe, da kommt Erika und wir liegen uns in den Armen. Vor dem Pilgerbüro treffe ich die Spanierin Amparo mit ihren Freunden und wir gehen erst einmal gemeinsam essen. Dann suchen sie ein Quartier und ich sehe zufällig meine Zimmerwirtin — sie hat noch andere Zimmer — und dann sind auch diese Caminofreunde verschwunden. Ich treffe die beiden Mädchen aus Melide — sie sind immer noch so überschwänglich laut!
Ich überlege, wie es weitergehen soll. Ich will auf jeden Fall noch zum Kap Finisterre — das ist mein eigentliches Ziel. Und dann wollte ich dort noch etwas Urlaub machen. Andererseits: Ich habe Sehnsucht nach zuhause! Am Telefon bespreche ich mich mit Silvia, und dann steht fest: Ich werde mit der Bahn fahren — ist zwar teuer, doch ich mag nicht fliegen. Immer wieder habe ich gehört, welch Schock das sei, die Strecke, die man in Monaten gelaufen ist, in Stunden heimzurasen! Ich werde mir also noch eine Woche Zeit lassen für Finisterre und am Siebten nach Hause fahren. Ich finde den
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