Lenke meine Fuesse Herr
zumal ich langsam müde werde, doch ich habe mir Cimadevila vorgenommen, wo es ein Refugio und ein Hostal geben soll. Endlich bin ich dort, finde auch das Hostal — doch man macht mir unmissverständlich klar: mindestens zwei Nächte! Da gehe ich lieber weiter — es ist schließlich noch nicht einmal sechs Uhr abends. Ich komme an einer Bar vorbei, wo ich ein Bocadillo esse, ein Bier trinke und noch eines — noch nie in meinem Leben konnte ich so viel Bier trinken, ohne Wirkung zu spüren, wie hier in Spanien! Ich blättere ein bisschen in Zeitschriften, die hier herumliegen, und wundere mich über die Freizügigkeit der Bilder, die hier gezeigt werden — da sind die deutschen Sexpostillen noch harmlos dagegen!
Wieder auf den Weg. Den 20-km-Stein habe ich schon fotografiert — jetzt geht es am Flugplatz entlang, um ihn herum durch Kiefernwald — werde ich bald in einem dieser Riesenvögel sitzen, die da mit Donnergetöse dicht hintereinander in den Himmel steigen? Eine Straße entlang, dann ein Weg, ich werde müde.
Eine Ortschaft mit verfallenden, niedrigen Steinhäusern. Eine Radiostation — wie wäre es, wenn jetzt ein Reporter herauskäme, um den Weitpilger zu interviewen? Campingplätze, endlich ein freier Platz, mit Müll übersät, auf einem Hügel ein großes Denkmal: Monte Gozo! Ich setze mich auf die Stufen des Pilgermonuments und starre in der Abendstille mit Tränen in den Augen hinab auf Santiago.
Ich suche die Kathedrale, doch ich finde sie nicht — schade! Wahrscheinlich hinter den Bäumen, die weiter unten am Hang wachsen. Ich raffe mich auf und gehe weiter — da vorne muss die große Herberge sein. Ich komme an ihr vorbei: die reinste Kaserne, dicht bevölkert. Nein! Lieber die letzten paar Kilometer noch! Treppen hinunter, unter der Autobahn hindurch, eine breite Ausfallstraße, das Denkmal des Santiagoritters, das Ortsschild: Ich bin wie in Trance! Ein Touristenbüro, jetzt um kurz vor acht noch offen. Eine freundlich junge Dame drückt mir einen Stadtplan in die Hand, zeigt und erklärt mir den Weg zur Kathedrale.
Ich gehe jetzt ziemlich langsam, stütze mich schwer auf die Stöcke. Der Rucksack drückt — hat er lange nicht mehr getan, die letzten Wochen habe ich ihn kaum noch gespürt. Ein Caminobekannter spricht mich an, umarmt mich — ich weiß so gerade eben, wer er ist. Er fragt, ob ich mit in seine Herberge will — ich lehne dankend ab: Jetzt erst in die Kathedrale, ankommen, endlich ankommen! Über belebte Plätze, auf einem singt eine wunderschöne Frau mit einer herrlichen Stimme eine Opernarie, begleitet von einem elektrischen Klavier. Bodegas, Bars, Geschäfte, und da ist endlich die Kathedrale, die unverkennbaren Türme! Ich komme an einen Platz, auf dem Clowns agieren und hier ist der Seiteneingang.
Durch die Tür — ein gewaltiges Kirchenschiff, doch das ist nur das Querschiff, ich schleppe mich unter die Vierung, wende mich dem Hauptaltar zu: Eine riesige goldene Wand sehe ich, mir schießen die Tränen in die Augen und ich bringe gerade noch heraus: „Lieber Gott, danke!!“, und dann heule ich, heule laut los, mit wildem Schluchzen, halte mich gerade noch mit den Stöcken aufrecht, während mich das Weinen schüttelt.
Plötzlich legt sich ein warmer, weicher Arm um mich, umfangen mich Arme, stützen mich, und eine Frau sagt auf Englisch: „Christian, schön, dass du hier bist!“ Ich sehe sie nur verschwommen, sie kommt mir bekannt vor, doch ich weiß sie nicht einzuordnen. „Wer bist du?“, bringe ich gerade noch hervor, ehe ich mich unendlich erleichtert tiefer in ihre Armen sinken lasse. Sanft löst sie sich von mir, hält mich nur noch mit den Händen. „Ich bin Jane aus New York, und ich habe in Cirauqui im Bett unter dir geschlafen!“ — „Und wie kommst du jetzt hierher?“ — „Wir sind ein Stück mit dem Bus gefahren und seit gestern hier. Ich wohne da drüben im Kloster. Und gerade eben hatte ich das Gefühl: Jetzt muss ich unbedingt noch einmal in die Kathedrale! Und da standest du, und ich wusste, weshalb ich kommen musste! God has sent me to you!“
Sie zieht ein Taschentuch — ein echtes, kein Tempo — und trocknet mir die Tränen. Ich hole selbst ein Papiertuch aus der Tasche und schnäuze mich kräftig — jetzt geht es mir viel besser! Jane nimmt mich am Arm und führt mich durch den Seiteneingang aus der Kathedrale, durch den ich gekommen bin. Draußen arbeiten noch die Clowns, doch ich habe keinen Blick für sie, ich gehe neben
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