Lennox 03 - Der dunkle Schlaf
Fotografien. »Können Sie mir eine Liste der Personen geben, mit denen Ihr Vater vor seinem Verschwinden verkehrte?«
»Wir haben nie jemanden kennengelernt, mit dem Daddy zu tun hatte …«
»… aber wir haben die Namen …«
»… die wir hinter dem Sekretär gefunden haben.«
»Was für Namen?«, fragte ich.
»Es war eine Liste, die Daddy gemacht hatte …«
»… vor vielen, vielen Jahren …«
»… und sie war hinter den Sekretär gerutscht …«
»… wo Mum sie beim Saubermachen fand.«
»Da waren mehrere Namen drauf.«
»Würde Ihnen das helfen?«
»Alles, was mir einen Anhaltspunkt liefert, wäre eine Hilfe«, sagte ich, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wieso Gentleman Joe die Namen seiner Komplizen, die beim Überfall auf die Empire Exhibition mit von der Partie gewesen waren, ausgerechnet einem Blatt Papier anvertraute.
***
Ich ging zum Bürofenster, während die Absätze von Isa und Violet die Treppe im Flur hinunterklackerten. Auf der Gordon Street und dem Eingang zum Hauptbahnhof drängten sich die Menschen. Da wir noch Vormittag hatten, gab es keine Parkeinschränkung, und direkt vor dem Eingang zu meinem Bürogebäude stand ein brandneuer Ford Zephyr, schwarz wie die Nacht und vom blendenden Glanz eines Ratenzahlungsvertrags. Am Kotflügel lehnte ein elegant gekleideter Mann und rauchte eine Zigarette. Er trug keinen Hut, und ich konnte sehen, dass er volles dunkles Haar hatte. Sein Anzug wirkte teuer und musste maßgeschneidert sein, denn in ein Jackett von der Stange hätten seine ausladenden Schultern nicht hineingepasst. Als die Zwillinge aus der Tür kamen, schnippte er den Zigarettenstummel weg und hielt pflichtschuldig eine Tür zum Fond auf. Das also war Violets Mann Robert. Selbst aus dem vierten Stockwerk sah ich, dass dieser Kerl »brauchbar« war, wie meine zwielichtigeren Geschäftsfreunde zu sagen pflegten. Ich ertappte mich bei der Frage, in welchem Umfang Roberts Schneider von der Großzügigkeit des anonymen Wohltäters seiner Frau profitierte und wie viel Einnahmen Violets Gemahl aus Tätigkeiten hatte, die er vor dem Finanzamt verschwieg. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, und daher blieb ich im Ungewissen, ob er mir bei meinen Begegnungen mit Glasgows weniger vornehmen Kreisen schon einmal über den Weg gelaufen war.
Nachdem sie abgefahren waren, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und runzelte die Stirn, ohne sagen zu können, worüber. Oder vielleicht wusste ich es doch: Ich hatte lange Zeit daran gearbeitet, auf Abstand zu den Drei Königen zu gehen. Trotzdem erhielt ich noch sehr sporadisch Aufträge von ihnen, und Willie Sneddon, Jonny Cohen oder Hammer Murphy konnte man nur schwerlich etwas abschlagen. Besonders Murphy schätzte es gar nicht, wenn jemand Nein sagte, und hatte ein Temperament, das sogar Psychopathen als ungezügelt bezeichnet hätten. Dieser neue Fall würde mich, da er mit dem berühmten – oder berüchtigten, das kam darauf an, an welchem Ende der abgesägten Schrotflinte man stand – Gentleman Joe Strachan zu tun hatte, wieder in die Welt der Drei Könige befördern. Aber das war es nicht einmal, was mich beunruhigte; die Stimme in meinem Hinterkopf sprach noch von etwas anderem. Ich runzelte die Stirn noch ein bisschen mehr.
Dann nahm ich das Bargeld, das mir die Zwillinge gegeben hatten, aus der Schreibtischschublade und zählte es durch. Danach noch einmal. Und am Ende hörte ich auf mit der Stirnrunzelei.
3
Dreitausend Meilen entfernt und einen Krieg früher, ungefähr zu der Zeit, als die Verbrecherlaufbahn von Gentleman Joe Strachan schon richtig gut angelaufen war, hatte ich als pflichteifriger Schüler die renommierte Boys’ Collegiate School in Rothesay, New Brunswick, an der kanadischen Atlantikküste besucht, von wo aus Glasgow ganz, ganz weit weg gewesen war. Aber auch nicht weiter als Vancouver. Zu meinen besten Fächern hatte Geschichte gehört. Dann war ich ohne Innehalten oder Zögern dem Ruf meines Königs gefolgt und herbeigeeilt, um das Empire und ein Mutterland, das ich verlassen hatte, ehe ich stubenrein war, gegen einen kleinen böhmischen Gefreiten zu verteidigen.
Das Merkwürdige am Krieg ist, dass er einem ganz plötzlich seine Begeisterung für Geschichte ruiniert. Wenn man mit ansieht, wie Männer kreischend oder weinend oder nach ihren Müttern rufend im Schlamm krepieren, stumpft das Vergnügen ab, die Daten von Schlachten oder die glorreichen Taten der Altvorderen auswendig zu lernen.
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