Lenz, Siegfried
Ina ging neben mir ins Haus.
Beim Essen saß sie neben Rolf, es gab zuerst Rührei mit Krabben, und weil sie wohl wußte, wie gern er Krabben aß, tat sie ihm immer noch einen Löffel auf, immer noch einen, er konnte nicht genug kriegen, der Schnelläufer mit seinen Sommersprossen und dem blonden Streichholzhaarschnitt, und er aß genau so geschwind wie ich, obwohl er fortwährend etwas zu erzählen hatte, aus der Schule und aus der Hollenhusener Sparkasse, in der sein Vater das Sagen hatte. Bei den Waffeln, als es dann Waffeln mit Sirup gab, hat Ina gefragt, ob der Sieger nicht etwas haben müßte für seinen Sieg, und ohne auf eine Antwort zu warten, brachte sie die letzte gelbbraune Waffel, die übriggeblieben war, auf meinen Teller, sie selbst kleckste den Sirup drauf; aber das war noch nicht alles. Als ich die Gabel in der rechten Hand hielt, legte sie ihre Hand plötzlich auf meine linke, sie drückte sie flach an die Tischplatte, klapste sie, beschwerte sie, und ich fühlte nichts als dieses kleine warme Gewicht und wagte nicht, hinzusehen, und schon gar nicht, die Waffel zu teilen. Später bemerkte ich, daß auch um ihre Hand ein roter Striemen lief, dort, wo die Schnur ins Fleisch geschnitten hatte.
Obwohl Dorothea auch mich nach dem Essen aufforderte, zu bleiben, verabschiedete ich mich und ging hinauf in meine Kammer, ich zog mich nicht aus, legte mich nur auf mein Lager und lauschte auf die Stimmen unten, auf ihre Stimme, sie spielten Spiele, an denen ich doch nicht hätte teilnehmen können; der Chef gewann immer und wurde darum ausgeschlossen. Ich wartete, meine Kammertür hatte ich ein wenig offen gelassen, nur einen Spalt, einmal mußte Ina ja heraufkommen, und ich hoffte, daß sie meine offene Tür bemerken und sie nicht schließen würde, ohne mir Gute Nacht hineinzurufen. Immer noch fühlte ich ihre Arme um meinen Hals, sah die Freude in ihren Augen, bei allem Kuddelmuddel in meinem Kopf spürte ich ihr loses Haar in meinem Gesicht und empfand das Gewicht ihrer Hand auf meiner Hand, und wenn ich’s mir nur vorstellte, hielt ich sie wieder ganz fest und band die Drachenschnur um ihren Bauch und verknotete sie, während Ina mich begeistert anspornte.
Als sie endlich heraufkam, hat sie nicht mehr zu mir hineingelauscht, auch meine Tür hat sie nicht geschlossen, sie hat sich mit einem prustenden Laut auf ihr Bett fallen lassen, lag eine Weile still, dann hat sie sich ganz schnell ausgezogen, wobei sie ihre Schuhe wohl nur so wegschleuderte. Vor dem Einschlafen, da hab ich mir noch lange überlegt, womit ich ihr am nächsten Tag eine Freude machen könnte, aber ich fand nichts – oder ich fand so viel, daß ich mich nicht entscheiden konnte.
Ich mußte einfach ihr Fahrrad putzen, mit dem sie an jedem Morgen zum Hollenhusener Bahnhof fuhr, ich mußte es wienern und die Reifen aufpumpen, während sie lustlos beim Frühstück saß, langzähnig kaute und Milch trank; Dorothea saß mit ihr am Küchentisch und wachte darüber, daß Ina beide Brotscheiben aß, mehrmals mußte Dorothea wie allmorgendlich sagen: Stopf nicht so, Kind. Durch die Fensterscheibe konnte ich beide beobachten, konnte sehen, wie Ina quengelte und Dorothea ihr zusprach; ich war längst fertig, ich zog die paar Schrauben nur zum Schein nach, doch dann, als Ina die Mappe aufnahm und einen schnellen Kuß an Dorotheas Wange abstreifte, schob ich das Fahrrad nicht zum Eingang, wie ich es vorgehabt hatte, ging nicht auf sie zu, um sie zu begrüßen und in ihrem Gesicht zu lesen, alle Worte waren weg, ich ließ das Fahrrad neben der Holzbank stehen und lief zur Hecke und duckte mich da. Sie merkte nicht, wie das Fahrrad glänzte, sie war wohl zu müde, doch ich war glücklich, als sie an mir vorbeifuhr, ich brauchte ihren Dank nicht; es genügte mir, daran zu denken, daß keine andere Fahrschülerin ein so gepflegtes Rad am Bahnhof abstellen würde wie Ina, und ich war schon froh.
Wie ungeduldig ich damals ihre Rückkehr erwartete, jeden Tag richtete ich es so ein, daß ich ihr aus der Ferne zuwinken konnte. Saßen wir gemeinsam am Tisch, dann wagte ich es mitunter nicht, sie offen anzusehen, ich weiß auch nicht, warum, ich wünschte mir immer nur eins: daß wir uns in der Einsamkeit begegnen, vielleicht in der Dämmerung zwischen den Kulturen, oder daß wir wieder eine Partei bildeten in einem Wettkampf. Erst wenn wir Kerzen ansteckten, um Strom zu sparen, wenn die Schatten sich bewegten, wagte ich es, zu ihr hinüberzusehen, und dann
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