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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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konnte ich nicht wegfinden von ihr, von ihrem mageren, wachsamen Gesicht, von ihren großen Augen und der mehrfarbigen Schmetterlingsspange in ihrem Haar; ich mußte sie ansehen, denn ich hoffte immer auf ein Zeichen, das nur für mich bestimmt war, auf eine Berührung, die erneuerte und bestätigte, was plötzlich beim Drachensteigen geschehen war. Darauf hoffte ich.
    Einmal war ich heimlich in ihre Kammer gegangen, ich war allein auf dem Kollerhof, und da die Tür offenstand, bin ich zu ihr hineingegangen – um viele Dinge hatte sie Schleifen gebunden, blaue und gelbe Schleifen, um ein Photo von Dorothea, um eine Vase, um den Fuß eines Globus, den sie vom Chef zu Weihnachten bekommen hatte. Am liebsten hätte ich damit begonnen, ihre Sachen aufzuräumen, die Schuhe, den Schal, den Pullover auf ihren Platz zu legen, das Baumwollhemdchen von der Stuhllehne zu nehmen, den Schlafanzug unters Kopfkissen zu legen, doch ich wagte nicht, etwas zu berühren, weil mich vom Schrank her die ausgestopfte Eule beobachtete, die ebenso aus Magnussens Hinterlassenschaft stammte wie mein ausgestopfter Iltis. Das Bernsteinauge. Der gespaltene Blick.
    Auf einem breiten, glatten Brett, das ihr den Tisch ersetzte, lagen einige Blätter aus Inas Zeichenblock, mit bunter Kreide hatte sie Herbstblumen gemalt, aus jeder Blume sah ein verstecktes Gesicht, das erst gefunden werden wollte. Es waren heitere Gesichter, die Übermut zeigten. Eine Weile hab ich nur auf ihrem Stuhl gesessen, dann bin ich an den Schrank gegangen, und weil das Eulenauge mich dort nicht erreichte, hab ich ihn geöffnet und den Lavendelduft eingeatmet.
    Die Blumen, gewiß hätte ich nicht damit angefangen, ihr heimlich eine Blume in den Schulranzen zu legen, wenn Bruno nicht die Zeichnungen in ihrer Kammer gesehen hätte, all die zwinkernden übermütigen Blumengesichter. Ich pflückte sie nicht von unserem Staudenbeet auf dem Kollerhof; die Chrysanthemen und Astern und ich weiß nicht was, die holte ich vom Hollenhusener Friedhof, die knipste ich aus frischen Kränzen heraus oder fischte sie, bevor sie in Wind und Regen verdarben, aus grünen Blechvasen, immer nur eine einzelne Blume, die ich meist in der Frühe holte. Leicht schwang ich über die bröckelnde Mauer, suchte mir, auf Abwechslung bedacht, ein geschmücktes Grab, knipste ab, was mir gefiel, und verbarg die Blume gleich unter der Jacke; zeigte sich mal einer auf der Straße oder auf dem Vorplatz, dann las ich die Inschriften auf den Grabsteinen oder setzte mich wie ein Trauernder auf ein Ruhebänkchen. Bevor Ina mit dem Fahrrad zum Bahnhof fuhr, schmuggelte ich die Blume in ihre Mappe, die entweder im Flur lag oder schon im Gepäckträger eingeklemmt war, und jedesmal versuchte ich, mir ihre Überraschung und ihre Freude vorzustellen, wenn sie die Mappe in der Klasse öffnete.
    Zuhause erzählte sie nichts von den Blumen, sie zeigte nichts vor und fragte nichts, dennoch glaube ich, daß sie mich im Verdacht hatte, weil sie öfter als sonst den Kopf über mich schüttelte, nicht vorwurfsvoll, nur mit traurigem Lächeln. Am meisten freute ich mich, wenn sie Aufträge für mich hatte. Putzte ich ihre Schuhe oder reparierte ich das Schloß ihres Kettchens, an dem der Bernsteintropfen hing, dann zog ich meine Arbeit in die Länge; oft mußte ich vor Schreck innehalten, weil ich das Gefühl hatte, sie selbst zu berühren, ihren Fuß, ihren Hals. Sollte ich in der Hollenhusener Sparkasse einen Brief für Rolf abgeben, dann trug ich ihn nur das erste Stück in der Hand; kaum war ich auf dem Pappelweg, schob ich ihren Brief in den Hemdausschnitt. Wie glücklich ich war, als ich ihr mein Geld borgen durfte; vor ihren Augen hab ich den ausgestopften Iltis geöffnet, in dem ich damals alle Münzen verwahrte, die ich vom Chef oder von Dorothea bekommen hatte; es waren mehr als acht Mark, die ich aus dem Iltis herausschüttelte. Ina hat das Geld im Schein meiner Taschenlampe nachgezählt, und zum Dank durfte ich sie am nächsten Tag begleiten. Sie hat Rolf ein Wurfspiel mit sechs Pfeilen gekauft.
    Nach einem Monat wollte Ina mir das Geld zurückgeben, doch als die Zeit um war, da bat sie um die gleiche Frist, und ich war sehr froh darüber und wünschte nur, daß sie mir den Betrag noch lange schuldig bliebe. Es bedrückte sie, daß ihr Taschengeld nicht ausreichte, um die Schulden zurückzuzahlen, es bedrückte sie sehr, und als sie mir einmal zwei Mark als Anzahlung geben wollte, nahm ich das Geld nicht an und

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