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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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streift, der Chef hat es ihm nicht abgewöhnen können, allein zu streifen, doch er wird nichts aufspüren, die wenigen Kaninchen, die am Anfang da waren, sind längst tot, und die beiden Dachse sind fortgezogen. Ich brauche ihn nicht zu rufen, er wird mir nicht gehorchen; obwohl er alt ist, bricht Paddy eine Jagd nicht ab; vielleicht käme er, wenn der Chef ihn riefe, vielleicht.
    Was gibt’s Neues, Bruno, fragt Ewaldsen, er fragt es mit abgewandtem Gesicht, während er einen roten Flicken von einem Gummistiefel abzieht und wieder aufklebt, und ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich weiß, daß er mich noch nie danach gefragt hat, was es Neues gibt, in siebenundzwanzig Jahren nicht. So, wie er jetzt zu mir kommt, erwartet er etwas Bestimmtes, er zwinkert mir zu, sieht mich forschend an, lange, viel zu lange, doch ich darf nichts sagen. Magda hat mir das Wort abgenommen. Alles, was sie aus der Festung mitbringt, muß unter uns bleiben. Wie ausgezehrt er ist, wie zerfurcht. Nix, Bruno, nix Neues? Er brennt sich seine Pfeife an, zieht so heftig, daß der Glutklumpen leuchtet, er schlägt mit der flachen Hand auf einen Holzkübel: Komm, setzen wir uns. Wir sind allein. Es ist so still, daß ich das Ticken seiner Taschenuhr in der Westentasche hören kann. Siehst du, Bruno, du hast mich gefragt, wozu man so einen Vormund braucht, und ich kann es dir sagen: wenn einer nicht mehr fertig wird mit sich, wenn nicht mehr zu verantworten ist, was er tut, dann kann man für ihn gesetzliche Fürsorge beantragen, beim Gericht. Das Gericht benennt dann einen Vormund, der alles übernimmt, die Verwaltung, die Unterschriften, den ganzen Schutz. So ist das. Aber hier bei uns gibt es wohl keinen, der einen Vormund braucht, keinen.
    Jetzt wartet er wieder, er spürt wohl, daß ich etwas weiß, vielleicht hat er selbst auch schon etwas erfahren, gerüchtweise, denn warum sonst redet er von einem Vormund und vom Gericht ohne Ankündigung? Er will mich aushorchen, aber ich darf Max nicht enttäuschen und Magda nicht; ich hab ihnen versprochen, zu schweigen. Wenn er spricht, sieht er oft auf seine Gummistiefel hinab und kratzt leicht seine Handrücken, die ganz schuppig sind, streicht über die Haut, in deren Rillen Erde sitzt wie endgültig. Sie munkeln, Bruno, sagt er, sie haben immer was zu munkeln, einer will was aus Schleswig gehört haben, direkt vom Amtsgericht, der andere hat was in der Festung aufgeschnappt – wir beide, denk ich, wissen mehr, uns kann keiner etwas vormachen. Das ist schon alles, und nun soll ich mir die Packhalle vornehmen, gründlich, denn die hat’s mal nötig, Bruno, diese hohe Halle mit dem Aluminiumgerippe, in der man sich fühlt wie im Bauch eines großen Fisches. Das Tor kann er ruhig ganz öffnen, das auf Rollen laufende Tor, ein kleiner Schubs genügt schon.
    Ina, das ist Ina; sie braucht nicht zu rufen, Paddy wird nicht gehorchen und zu ihr laufen; wenn er die Kulturen durchstöbert, kennt er keinen Herrn. Sie rupft Blüten, pflückt sich vom Fruchtbehang, in ihren Tütchen steckt bereits Grün vom Lebensbaum, also hat einer Geburtstag in der Festung, vermutlich Tim oder Tobias, einer dieser Quälgeister – der Chef und Dorothea haben im Winter Geburtstag. Blüten und Früchte und Zweige wird sie zu schönen Bogen auf dem Tisch auslegen, dort, wo das Geburtstagskind sitzt, das ist schon immer so gewesen, in der Baracke und auf dem Kollerhof, auch an meinem Geburtstag waren Tasse und Teller immer bunt eingerahmt, jedesmal waren Holunderblüten dabei. Wenn ich nur wüßte, wo all die Geschenke geblieben sind, die auf meinem Platz lagen, das braune Etui mit Kamm und Spiegel, und der Lederriemen und das dicke Buch, die Geschichte der Segelschiffahrt mit vielen Bildern. Die Federkugel, die ich Ina zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt habe, die liegt immer noch auf ihrem Fensterbrett, die bemalte Tonkugel, die ich mit Federn gespickt habe, Tauben- und Drosselfedern, mit Federn vom Eichelhäher und von der Saatkrähe und von der Wildtaube und vom Fischreiher. Ihr ist mein Geschenk nicht weggekommen.
    Sie lag noch im Bett, als ich es ihr brachte, ich ging ganz leise in ihre Kammer, um die Federkugel unbemerkt neben ihr Kopfende zu legen, doch Ina war schon wach, vielleicht vom Wind, der heulend unters Dach langte, vielleicht von ihrer Aufregung, und zuerst konnte sie nicht erkennen, was ich ihr geben wollte, und fragte beinahe ängstlich: Was ist das, Bruno, was hast du da? Weil sie sich

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