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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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Den Schuß, den Rolf abfeuerte, hab ich gar nicht gehört, ich spürte nur einen leichten Schlag gegen die Brust, gegen die Erkennungsmarke, und noch bevor ich die Hand rührte oder mich umdrehte, sah ich, wie der Erpel einen kleinen Hopser machte und dann den Kopf heftig am Boden scheuerte und wild um mich herumflatterte, ohne aufzufliegen. Der Querschläger hatte ihn ins Auge getroffen, ins Auge, und während er flatterte und hopste, kamen die andern angelaufen und Joachim warf sich auf ihn und fing ihn.
    So sehr ich ihn auch darum bat, er wollte mir das verwundete Tier nicht geben, er drückte es fest an seinen Körper, weil es unaufhörlich ruderte und sich wand, und dann haben sich Rolf und Joachim besprochen und sind zu dem Weidengebüsch gegangen, wo sie Ak-Ak mehrmals in den Kopf schossen, bis er tot war. Da bin ich ins Haus gegangen, in meine Kammer, und hab die Tür verhaspelt und mich auf mein Lager gelegt.
    Einem anderen als Dorothea hätte ich bestimmt nicht geöffnet, sie stand allein hinter der Tür, bat, klopfte und bat, und als ich sie hereinließ, nahm sie gleich meine Hand, und wir setzten uns hin. Die Ruhe. Die Besänftigung. Sie war da, und ich wartete auf ihre Worte; sie sagte nicht viel, sie meinte nur, daß Ak-Ak verletzt war und erlöst werden mußte. Und sie sagte auch: Zum Mitleid, Bruno, da gehört mitunter auch Härte, Härte und Mut. Und das war schon alles. Dann hat sie mich eingehakt und daran erinnert, daß Geburtstag war, sie wollten etwas steigen lassen, aber nicht ohne mich, sie warteten alle nur auf mich, und besonders Ina, die schon ein paarmal versucht hatte, mich zu holen. Sie saßen bereits in der großen Wohnstube, bei meinem Eintritt sprangen sie auf und zeigten mir die beiden langschwänzigen Papierdrachen, die der Chef heimlich für diesen Tag gemacht hatte, bunt bemalte Drachen mit breiten, lachenden Mündern, mit Clownsbacken und Schielaugen. Es waren die größten Drachen, die ich je gesehen hatte, und die Schnurknäuel waren so dick, daß man sie in beide Hände nehmen mußte. Wer mit wem, wer gegen wen? Ina wollte, das war klar, nur mit Rolf gehen, mit ihm, der überall neben ihr sitzen mußte, für den sie unablässig ein Auge hatte, aber dann wetteten sie, und Rolf mußte mit Elma gehen, und die andere Partei, das waren Ina und ich.
    Nur ein paar Schritte Anlauf auf der Wiese hinterm Kollerhof, und der Wind preßte das Pergamentpapier gegen das leichte Holzkreuz, die Drachen stiegen, pendelten zuerst, beruhigten sich mehr und mehr in der Höhe, getrimmt von den schwingenden Papierschwänzen.
    Wir steckten Schnur nach, die Drachen stiegen und stiegen, und je höher der Wind sie trug, desto schwerer war es, sie zu halten; doch obwohl unsere Hände schon brannten, trieb Ina mich an, die Schnur schneller abzuwickeln, unser Drachen sollte am höchsten stehen, wir sollten gewinnen. Ihr Eifer steckte mich an, alles, was sie sich wünschte, wünschte auch ich mir, und gemeinsam rissen wir die Schnur vom Knäuel, Hand über Hand, wir stützten einander, hielten uns ganz fest und bewahrten einander davor, zu straucheln, und bevor ich ins Haus lief, um ein neues Knäuel zu holen, band ich ihr das Ende der Schnur um den Bauch und verknotete es, und dabei legte Ina mir beide Arme um den Hals und sagte nur: Schnell, Bruno, schnell, wir müssen gewinnen. Wenn wir uns in die Augen sahen, dann freuten wir uns, und wenn ich sie festhielt, dann wollte ich sie gar nicht mehr loslassen, und sie war einverstanden damit. Sie wollte gewinnen, sie wollte, daß unser Drachen am höchsten stieg, daß er die meiste Post bekam – durchlöcherte Pappstücke, die der Wind an der Schnur hinauftrieb, so weit es ging; einmal stürzte und überschlug er sich und hätte sich beinahe in der Überlandleitung verfangen, aber auf ihr hastiges Kommando rannten wir los und brachten Wind unter den taumelnden Drachen, so daß er wieder auftrieb und sich pendelnd über den Kollerhof erhob.
    Manchmal war ihr Gesicht gar nicht zu sehen, weil der Wind ihr Haar verwehte, verblies, ihr schimmerndes Haar. Manchmal rutschte ihr Kettchen aus dem Halsausschnitt, und ich konnte den Bernsteintropfen erkennen mit den fünf eingeschlossenen Insekten. Daß sie sich abstemmen konnte mit ihren dünnen Schenkeln, das hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir den Drachen nicht einzuholen brauchen, doch Dorothea rief uns alle zum Essen hinein, und wir bargen und rollten die Schnur auf, und

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