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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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beschriebene Bogen in Erinnerung; wie er da noch durchfand, das wußte nur er allein.
    Von dem Tag an, an dem er Joachim neben sich sitzen ließ, änderte sich das allmählich, die Schnur und der Spieß und der Metallring verschwanden, der Fußboden konnte überall betreten werden, denn Joachim sorgte dafür, daß neben dem Tisch ein Regal aufgestellt wurde und ein offener Aktenschrank; was verstreut war und herumflatterte, fand seinen festen Platz, der nicht nur beschildert, sondern auch gegen Zugluft geschützt war. Ich wunderte mich, wie wenig Mühe der Chef aufbringen mußte, um Joachim einzuweihen, oft schob er ihm die Papiere nur still zu, oder er machte einen Kringel um eine Zahl, oder er sagte nur: Was meinst du dazu, und es dauerte nicht lange, da konnte Joachim sich schon so dazu äußern, daß der Chef zufrieden war. Er vertraute Joachim und überließ ihm immer mehr, manchmal staunte er darüber, was der alles von sich aus gemacht hatte, und einmal kam ich dazu, wie sie eine Flasche Wein zusammen tranken, das war, nachdem sie sich abgesprochen und geeinigt hatten über einen Vertrag, der noch vor ihnen auf dem Tisch lag.
    Beim Abendbrot sagte der Chef zu Dorothea: Damit du’s nur weißt, Dotti, neben dir sitzt mein kleiner Partner; paß nur auf, der Junge ist mit allen Wassern gewaschen. Das hat er gesagt, und dann durfte ich einen Schluck Wein probieren.
    Als der Schuß fiel in der Ferne, da ahnte ich gleich, daß ein Unglück geschehen war, ein trockner Knall an einem Sonntagnachmittag, der bei uns in der Senke so schwach ankam, daß der Chef den Kopf hob und fragte: War das nicht ein Schuß? Aber er maß ihm keine Bedeutung bei, er zuckte die Achseln und fuhr fort, die Keimwilligkeit der Samen zu bestimmen, während ich auf meinem Hocker saß und ihm zusah, wie sooft in unserm Schuppen in der Senke.
    Joachim, und plötzlich taumelte Joachim herein, sein Atem ging so schwer, daß er kaum sprechen konnte, sein Gesicht war schweißbedeckt vom schnellen Lauf, und seine Hände hörten nicht auf zu zittern; auch als er sich auf die Platte des Arbeitstisches stützte, zitterten sie noch. Der Chef ließ alles fallen und zog Joachim zu sich heran und wollte immer nur hören, was geschehen war, doch Joachim hatte kaum Wörter, er konnte nur sagen: Kommt, schnell, oder: An der Steinmauer, schnell; mehr schaffte er nicht, und als wir losrannten, der Chef und ich, taumelte er nur hinter uns her, einmal fiel er auch hin – ich sah es, als ich mich nach ihm umdrehte.
    Wir liefen auf die drei Pferde zu – eines stand ruhig an der Steinmauer, zwei rupften sich Blätter von meinem Holunder –, und je näher wir kamen, desto mehr hielt ich mich zurück. Und dann sah ich sie: eins der Mädchen lag auf der Erde, das andere kniete neben ihm und sprach auf es ein, es weinte und war ganz verschmiert im Gesicht, und als es den Chef erkannte, weinte es noch heftiger, wurde aber auf einmal von Husten geschüttelt und wimmerte nur noch. Der Chef stieg gleich über die Mauer hinüber, beugte sich über das wie tot liegende Mädchen, er fragte es, ob es ihn verstehe, doch das Mädchen bewegte nicht die Lippen, seine Augen waren geöffnet, sein Blick folgte sogar den Bewegungen seiner kreisenden Hand, aber sprechen, das konnte es wohl nicht. Ich blieb diesseits der Mauer und behielt die Pferde im Auge, die gesattelt waren, die sich gleichgültig bewegten und von meinem Holunder rupften. Plötzlich fragte der Chef: Ist sie hier gestürzt?, worauf das kniende Mädchen mit Verzögerung nickte, es stand auf und deutete den Weg an, den sie von den Wiesen bis zur Mauer geritten waren, und dann sagte sie sehr leise: Hier, und wollte wissen, ob der Arzt schon unterwegs sei. Hat das Pferd gescheut, fragte der Chef. Das Mädchen kniete sich nieder, ohne zu antworten, es sammelte behutsam einige lange Haare aus dem Gesicht seiner Freundin und flüsterte: Maike, hörst du mich, Maike; erst nachdem der Chef seine Frage wiederholt hatte, sagte es: Der Schuß, beim Schuß ging es durch, und hier wurde Maike abgeworfen.
    Daß kein anderer als ich Doktor Ottlinger holen würde, das wußte ich im voraus, ich wartete nur, bis der Chef mir den Auftrag gab, und als er mich losschickte, war Joachim immer noch nicht bei uns, aber ich sah ihn schon und lief auf ihn zu und rief im Vorbeilaufen, daß Doktor Ottlinger gleich kommen würde. Die Böschung hinunter zu den Schienen stürzte ich, rannte ich, und dann auf dem harten, erlaufenen Pfad neben den

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