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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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Gleisen bis zur Schranke, nicht die Hollenhusener Hauptstraße, sondern am vergessenen Sportplatz vorbei und weiter zu dem dichten Tannenspalier, mit dem Doktor Ottlinger sein großes Rotziegelhaus umgeben hatte, schnell über den Rasen und geläutet und geläutet, bis eine Frau kam und sagte: Er ist nicht da, mein Mann macht Besuche. Also zuerst Sibbersen, da war er schon weg, dann weiter zu Knull, von denen er zu Wiermanns fahren wollte, hier hätte ich ihn fast erwischt, aber vor Tordsens Kolonialladen stand sein altes, geräumiges Auto. Endlich hatte ich ihn, ich stellte mich vor sein Auto, bis er kam, ein alter Mann mit lichtem Haar, freundlich, doch mit zugenähten Lippen. Beim Zuhören neigte er immer den Kopf, als ob er alles bezweifelte. Ein knapper Wink, und ich durfte neben ihm sitzen.
    Nichts, er gab dem Mädchen nichts ein, er untersuchte es schweigend und blickte nicht einmal auf, als Joachim erzählte, unbedingt erzählen mußte, wie es geschehen war. Joachim konnte sich den Sturz gar nicht erklären, da sie im Trab geritten waren von den Wiesen herauf, die beiden Mädchen voran und er hinterdrein, nur im Trab, durch ein Gelände, das auch den Pferden vertraut war, in dem sie sich im Schlaf zurechtfanden, die niedrige Mauer hatten sie oft genommen, spielend, frommer als Maikes Pferd war kein anderes Pferd weit und breit, für Joachim gab es da einfach keine Erklärung. Doktor Ottlinger schwieg zu allem, er sagte auch nichts, als Joachim ihn fragte: Sie kommt doch in Ordnung, nicht, Maike schafft’s doch wieder? Der Doktor strich dem Mädchen über die Wange und gab dem Chef ein Zeichen, und beide gingen zum Auto und machten sich an den Sitzen zu schaffen, sie verstellten sie, und dann hoben sie gemeinsam, der Chef und der Doktor, das Mädchen hoch und betteten es so in das alte geräumige Auto, daß es fast ausgestreckt lag.
    Wie geduldig es alles mit sich machen ließ, es sprach nicht, es stöhnte nicht, man konnte ihm den Sturz nicht ansehen, nur im Mundwinkel war ein bißchen Blut, und eine Wange war aufgerauht und unrein, als ob Sandkörner sich dort eingedrückt hätten. Das andere Mädchen fragte, ob es mitfahren dürfe, nein, es fragte nicht, es bettelte: Bitte, bitte, ich muß mitfahren, und Doktor Ottlinger nickte und gab dem Chef die Hand und fuhr los, langsam, rumpelnd übers Land bis zu einer Arbeitsgasse und dann in Richtung Hauptweg.
    Joachim bibberte, nie hab ich ihn so bibbern sehen, er blickte immerfort den Chef an, der auch noch unbeweglich dastand, nachdem das Auto verschwunden war. Der Chef sagte nicht viel, er wollte nur wissen, womit Joachim geschossen hatte, und Joachim sagte darauf: Nur ein einziger Schuß in die Luft, mit einem Revolver; abliefern, wie der Chef es gleich wollte, konnte er den Revolver nicht, weil er ihn schon fortgeworfen hatte. Such ihn, sagte der Chef, such ihn und bring ihn mir, und das war schon alles; er wandte sich ab und ging zur Senke hinunter, und ich folgte ihm, wagte es aber nicht, ihn einzuholen.
    Das Schweigen auf dem Kollerhof. Die blickweise Verständigung zwischen Dorothea und dem Chef. Joachims Schritte, wenn er hin- und herging in seiner Kammer. Das Getuschel, nachdem der Chef zurück war vom Erlenhof, das Achselzucken. Niedriger kam mir die Decke nie vor, es war, als ob alles zusammengepreßt wurde in dem Haus, die Luft und die Stimmung und wir selbst. Einmal, als Joachim seinen unangerührten Teller in die Küche bringen wollte, prallten wir zusammen, ein wenig von seiner Milchsuppe schwappte über, befleckte nicht seine Hose, sondern platschte auf den Fußboden, da sah er mich verbittert an und sagte: Doofkopp, verdammt.
    Ina wußte es als erste, von ihr erfuhren wir, daß Maike in Schleswig lag und daß sie nicht gehen konnte und vermutlich nie mehr würde gehen können. Der Sturz hatte etwas kaputtgemacht in ihr, ich weiß nicht, was, die Wirbelsäule oder der Kopf. Wie betäubt saß Joachim, als Ina das erzählte, er stierte vor sich hin, während Dorothea und der Chef sich mit ihren Blicken suchten; er saß eine ganze Weile so da, und auf einmal stand er auf und ging nach draußen, ohne daß einer ihn anrief oder fragte, was er vorhatte. Sie ließen ihn gehen, sie erwähnten ihn während eines ganzen Tages nicht, sorgten sich anscheinend nicht um ihn, doch spät in der Dunkelheit, da fing Dorothea an, in der Küche zu arbeiten, sie wärmte da wohl etwas, stieß das ewig klemmende Fenster auf und schloß es wieder, ging herum und

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