Léon und Louise: Roman (German Edition)
einem nach dem anderen gerade in die Augen. Sie begann links außen, wo die kleinsten Kinder mit ihren Vätern saßen, ging die ganze Reihe durch und verharrte bei jedem einzelnen für vielleicht eine Sekunde, und als sie rechts außen angelangt war, schenkte sie uns ein sieghaftes Lächeln, setzte sich in Bewegung und eilte klackenden Schrittes an der Familie vorbei durch den Mittelgang, dem Ausgang entgegen.
2. KAPITEL
Zu der Zeit, da mein Großvater Louise Janvier kennenlernte, war er siebzehn Jahre alt. Ich stelle ihn mir gern als ganz jungen Mann vor, wie er im Frühling 1918 in Cherbourg seinen Koffer aus verstärkter Pappe aufs Fahrrad band und das Haus seines Vaters für immer verließ.
Was ich über ihn als jungen Mann weiß, ist nicht sehr viel. Auf der einen Familienfotografie, die es aus jener Zeit gibt, ist er ein kräftiger Bursche mit hoher Stirn und unbändig blondem Haar, der das Treiben des Studiofotografen neugierig und mit spöttisch zur Seite geneigtem Kopf beobachtet. Weiter weiß ich aus seinen eigenen Erzählungen, die er im Alter wortkarg und mit gespieltem Widerwillen vortrug, dass er am Gymnasium oft fehlte, weil er lieber mit seinen besten Freunden, die Patrice und Joël hießen, an den Stränden von Cherbourg unterwegs war.
Zu dritt hatten sie an einem stürmischen Januarsonntag 1918, als kein vernünftiger Mensch sich dem Ozean auf Sichtweite nähern wollte, im Schneegestöber an der Ginsterböschung das angeschwemmte Wrack einer kleinen Segeljolle gefunden, die mittschiffs ein Loch hatte und auf ganzer Länge ein bisschen angesengt war. Sie hatten das Boot hinters nächste Gebüsch geschleppt und es in den folgenden Wochen, da der rechtmäßige Besitzer sich partout nicht bei ihnen melden wollte, eigenhändig mit großem Eifer repariert und geschrubbt und knallbunt angemalt, bis es aussah wie neu und nicht mehr wiederzuerkennen war. Von da an fuhren sie in jeder freien Stunde hinaus auf den Ärmelkanal, um zu fischen, zu dösen und getrockneten Seetang zu rauchen in Tabakpfeifen, die sie aus Maiskolben geschnitzt hatten; wenn etwas Interessantes im Wasser dümpelte – eine Planke, das Sturmlicht eines versenkten Schiffes oder ein Rettungsring –, nahmen sie es mit. Manchmal fuhren Kriegsschiffe so nah an ihnen vorbei, dass ihr kleiner Kahn auf und ab hüpfte wie ein Kalb am ersten Frühlingstag auf der Weide. Oft blieben sie den ganzen Tag draußen, umrundeten das Kap und fuhren westwärts, bis am Horizont die britischen Kanalinseln auftauchten, und kehrten erst im letzten Licht der Abenddämmerung an Land zurück. An den Wochenenden verbrachten sie die Nächte in einer Fischerhütte, deren Besitzer am Tag seiner Einberufung nicht mehr die Zeit gehabt hatte, das rückseitige kleine Fenster ordentlich zu verbarrikadieren.
Léon Le Galls Vater – also mein Urgroßvater – wusste nichts von der Segeljolle seines Sohnes, nahm aber dessen Streunerei am Strand mit einiger Besorgnis zur Kenntnis. Er war ein zigarettenverschlingender, vor der Zeit gealterter Lateinlehrer, der sich in jungen Jahren nur deswegen fürs Lateinstudium entschieden hatte, weil er damit seinem Vater den größtmöglichen Verdruss hatte bereiten können; dieses Vergnügen hatte er in der Folge mit jahrzehntelangem Schuldienst bezahlt und war darob kleinlich, engherzig und bitter geworden. Um sein Latein vor sich selbst zu rechtfertigen und sich weiterhin lebendig zu fühlen, hatte er sich ein enzyklopädisches Wissen über die Zeugnisse römischer Zivilisation in der Bretagne angeeignet und betrieb dieses Steckenpferd mit einer Leidenschaft, die in groteskem Gegensatz zur Geringfügigkeit des Themas stand. Seine endlosen, quälend eintönigen und von Kettenrauch begleiteten Referate über Tonscherben, Thermalbäder und Heeresstraßen waren am Gymnasium legendär und gefürchtet. Die Schüler hielten sich schadlos, indem sie seine Zigarette beobachteten und darauf warteten, dass er damit an die Wandtafel schrieb und die Kreide rauchte.
Dass er am Tag der Generalmobilmachung wegen seines Asthmas zurückgestellt worden war, empfand er einerseits als Glück, andrerseits als Schande, da er im Lehrerzimmer der einzige Mann unter lauter jungen Frauen war. Fürchterlich war sein Zorn gewesen, als er von den Kolleginnen hatte erfahren müssen, dass sein einziger Sohn seit Wochen kaum mehr an der Schule gesehen worden war, und endlos waren seine Vorträge am Küchentisch gewesen, mit denen er den Jüngling vom Wert
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