Léon und Louise: Roman (German Edition)
liegt Saint-Luc-sur-Marne?«
»An der Marne, du Holzkopf, irgendwo zwischen Schnittlauch und Stangenbohnen. Keine Angst, die Front verläuft jetzt woanders. Dringliche Ausschreibung, du kannst sofort anfangen. Bekommst sogar Lohn, hundertzwanzig Franc. Wir können es ja versuchen.«
So kam es, dass Léon Le Gall an einem Frühlingstag des Jahres 1918 seinen Pappkoffer aufs Fahrrad band, innig seine Mutter küsste und nach kurzem Zögern auch den Vater umarmte, aufs Rad stieg und in die Pedale trat. Er beschleunigte, als müsste er am Ende der Rue des Fossées vom Boden abheben wie Louis Blériot, der kürzlich mit seinem aus Eschenholz und Fahrradrädern selbstgebastelten Flugzeug den Ärmelkanal überquert hatte. Er raste vorbei an den armseligen, tapfer wohlanständigen Kleinbürgerhäusern, in denen seine Freunde Patrice und Joël gerade sägemehlhaltiges Kriegsbrot vom Vortag in ihren Milchkaffee tunkten, vorbei an der Bäckerei, aus der fast jeder Bissen Brot stammte, den er in seinem Leben gegessen hatte, und vorbei am Gymnasium, an dem sein Vater noch vierzehn Jahre, drei Monate und zwei Wochen sein täglich Brot verdienen würde. Er fuhr vorbei am großen Hafenbecken, in dem ein amerikanischer Getreidetanker friedlich neben britischen und französischen Kriegsschiffen lag, überquerte die Brücke und bog rechts in die Avenue de Paris ein, glücklich und ohne jeden Gedanken daran, dass er das alles möglicherweise nie wiedersehen würde, fuhr vorbei an Lagerhäusern, Hebekränen und Trockendocks, hinaus aus der Stadt und hinein in die endlosen Wiesen und Weiden der Normandie. Nach zehn Minuten Fahrt versperrte eine Herde Kühe die Straße, er musste halten; danach fuhr er langsamer.
In der Nacht zuvor hatte es geregnet, die Straße war angenehm feucht und staubfrei. Auf dampfenden Wiesen standen blühende Apfelbäume und weidende Kühe. Léon fuhr der Sonne entgegen. Er hatte leichten Westwind im Rücken und kam rasch voran. Nach einer Stunde zog er die Jacke aus und band sie auf den Koffer. Er überholte ein Fuhrwerk, das von einem Maulesel gezogen wurde. Dann kreuzte er eine Bäuerin mit einer Schubkarre und fuhr an einem Lastwagen vorbei, der mit rauchendem Motor am Straßenrand stand. Pferde sah er keine; Léon hatte im Petit Inventeur gelesen, dass nahezu sämtliche Pferde Frankreichs an der Front Dienst taten.
Am Mittag aß er das Schinkenbrot, das ihm die Mutter eingepackt hatte, und trank Wasser aus einem Dorfbrunnen. Nachmittags legte er sich unter einen Apfelbaum, blinzelte hoch in die weißrosa Blüten und zartgrünen Blätter und stellte fest, dass der Baum seit Jahren nicht mehr geschnitten worden war.
Am Abend traf er in Caen ein, wo er bei Tante Simone übernachten sollte. Sie war die jüngste Schwester jenes Serge Le Gall, dem ein Gefängnisinsasse mit einer Axt den Schädel gespalten hatte. Es war ein paar Jahre her, dass Léon sie zum letzten Mal gesehen hatte; er erinnerte sich an die vollen Brüste unter ihrer Bluse, an ihr Gelächter und ihren großen roten Frauenmund und dass ihr Drachen am Strand höher gestiegen war als alle anderen. Aber dann waren kurz nacheinander ihr Mann und ihre beiden Söhne in den Krieg gezogen, und seither schrieb Tante Simone, fast wahnsinnig vor Kummer und Sorge, jeden Tag drei Briefe nach Verdun.
»Da bist du also«, sagte sie und ließ ihn eintreten. Das Haus roch nach Kampfer und toten Fliegen. Ihr Haar war wirr, der Mund fahl und rissig. In der rechten Hand hielt sie einen Rosenkranz.
Léon küsste sie auf beide Wangen und richtete die Grüße seiner Eltern aus.
»Auf dem Küchentisch stehen Brot und Käse«, sagte sie. »Und eine Flasche Cidre, wenn du willst.«
Er überreichte ihr die gebrannten Mandeln, die seine Mutter ihm als Gastgeschenk mitgegeben hatte.
»Danke. Geh jetzt in die Küche und iss. Du schläfst neben mir heute Nacht, das Bett ist breit genug.«
Léon machte große Augen.
»Das Bubenzimmer kannst du nicht haben, das habe ich zusammen mit dem Schlafzimmer vermieten müssen an Flüchtlinge aus dem Norden. Und das Sofa im Salon habe ich verkauft, weil ich Platz für das Bett brauchte.«
Léon machte den Mund auf und wollte etwas sagen.
»Das Bett ist breit genug, stell dich nicht so an«, sagte sie und fuhr sich mit der Hand durchs matte Haar. »Ich bin müde vom langen Tag und habe nicht die Kraft, mich mit dir herumzuschlagen.«
Ohne ein weiteres Wort ging sie hinüber in den Salon und schlüpfte mit all ihren
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