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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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zusammengezählt, ein bisschen die Nase in die Wind gehalten und es dann als ihre Pflicht angesehen hatte, sämtliche Nachbarn über die Vorkommnisse bei der Familie Le Gall zu informieren.
    Sogar die Kinder wussten Bescheid; weil aber auch sie rücksichtsvoll schwiegen und sich höchstens mit ironischen Seitenblicken und gemurmelten Andeutungen verständigten, konnte Yvonne in ihren eigenen vier Wänden, die sie kaum mehr verließ, weiterhin in Frieden leben.
    Dann kam die Zeit, da die Kinder eins ums andere auszogen. Der erstgeborene Michel, der wegen seines mäßigen Reifezeugnisses Semester um Semester vergeblich auf eine Zulassung an die Technische Hochschule gewartet hatte, nahm im Frühjahr 1947, als die Renault-Werke eine neue Produktionshalle eröffneten, eine Anstellung als Hilfsmechaniker an und bezog ein möbliertes Zimmer in Issy-les-Moulineaux. Zwei Jahre später meldete sein Bruder Yves sich siebzehnjährig zur Armee und wurde dem Régiment du Tchad zugeteilt. Im gleichen Jahr starb Madame Rossetos nach kurzem Unwohlsein im Krankenhaus und wurde in ihren Funktionen an der Rue des Écoles durch ein Putzinstitut und eine elektrische Klingelanlage ersetzt. Im Sommer 1950 nahm auch Robert Abschied von den Eltern, um an einer Landwirtschaftsschule im Burgund die Aufzucht von Charolais-Rindern zu erlernen, und als weitere zwei Jahre später die sechzehnjährige Muriel die Rue des Écoles verließ, um an einer Klosterschule bei Chartres ein Diplom als Grundschullehrerin zu erwerben, blieben Yvonne und Léon allein mit dem elfjährigen, mädchenhaft zarten Philippe zurück.
    Yvonne litt nicht unter der plötzlichen Einsamkeit, sondern nahm sie hin als den natürlichen Lauf der Dinge. Für sich selbst wünschte sie nichts mehr als Sonnenlicht, reichlich Nahrung und beliebig viel Schlaf.
    Mitte der Fünfzigerjahre empfing sie ein paar Monate lang Besuch von einer Zeugin Jehovas, deren blutrünstige Geschichten über die Verdorbenheit der Welt und die Vergeltung eines rachsüchtigen Gottes ihr eine Weile Vergnügen bereiteten. Im Winter 1958 ließ sie sich, als auch der kleine Philippe in den Militärdienst eingerückt war, im Wohnzimmer ein Fernsehgerät installieren. Am liebsten schaute sie sich Boxkämpfe und Autorennen an.
    Eines Morgens im Mai 1961 schließlich bemerkte sie, als sie sich mit dem Waschlappen über den Hals fuhr, eine kleine, harte Geschwulst am Hals unterhalb des rechten Ohrs. Die Geschwulst wurde von Tag zu Tag größer, dann bildete sich auch unter dem linken Ohr eine.
    »Das geht vielleicht von allein wieder weg«, sagte sie, als Léon den Arzt rufen wollte.
    »Vielleicht geht’s weg, vielleicht auch nicht«, sagte Léon. »Auf jeden Fall muss sich das der Arzt anschauen.«
    »Nein«, sagte Yvonne.
    »Doch.«
    »Nein.«
    »Das kann gefährlich sein. Willst du vielleicht daran sterben?«
    »Nicht unbedingt«, sagte Yvonne. »Aber wenn der Herrgott will, dass ich gehe, werde ich gehen.«
    »Dem Herrgott ist das doch egal, ob du bleibst oder gehst, du dummes Huhn. Der hat eine Menge andere Dinge um die Ohren.«
    »Na also.«
    »Aber mir ist es nicht egal. Und ich sage dir, das muss man operieren.«
    »Bist du vielleicht Arzt?«
    »Ich habe Augen im Kopf. Und ein Gehirn zwischen den Ohren.«
    »Das habe ich auch«, sagte Yvonne. »Und deshalb sage ich dir, lass mich in Frieden. Wenn ich gehen soll, dann gehe ich.«
    »Einfach so?«
    »Ganz einfach.«
    Und so wuchsen die Geschwülste an Yvonnes Hals weiter und drückten ihr buchstäblich die Kehle zu. Nach ein paar Wochen kam die Nacht der großen Atemnot, in der sie nur noch mit Mühe sprechen konnte. Sie erzählte Léon von ihrem Fehltritt mit Raoul vor über dreißig Jahren, und er nahm sie in die Arme und sagte, das sei doch längst egal. Dann schlief sie ein oder stellte sich schlafend, und Léon schlief neben ihr ein.
     
    *
     
    Auf den Tag ein Jahr nach Yvonnes Beerdigung trafen sich Louise und Léon frühmorgens um sieben am Arsenal-Hafen. Es war ein frischer, klarer Tag, die Sonne war eben über den Häusern am Boulevard de la Bastille aufgegangen. Louise und Léon waren sonntäglich gekleidet, obwohl es ein Dienstag war. Sie waren nun beide zweiundsechzig Jahre alt, ein gesundes, glückliches und schönes Paar.
    Louise hatte Käse, Brot und Schinken mitgebracht, er hatte Wasser, Cidre und Rotwein dabei.
    »Bist du sicher, dass der Kahn nicht untergeht?«, fragte Louise.
    »Ganz sicher«, sagte Léon. »Ich habe den Rumpf alle zwei

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