Leonard Bernstein
für Decca aufnahm. Er hieß ›Rock It for Me‹. Darin hieß es, Oper ist out, Rock ’n’ Roll ist in. Sie kennen ihn nicht? Wollen Sie ihn hören?«
»Nach einem halben Jahrhundert erinnern Sie sich noch daran?«, fragte ich skeptisch.
Unverdrossen begann Bernstein nun zu singen, mit den Fingern zu schnippen, die Riffs der Hörner zu brummen und dazu auf den Tisch zu hämmern. Es war eine unvergessliche Vorführung: » So beat it out in a minor key / Oooo! Rock it [bumm]! Rock it [bumm]! / Oh, won’t you ro-ock it for me [bamm]!«
»Wow!«, sagte ich. »Das klingt wirklich wie eine frühe Version von Chuck Berrys ›Roll Over Beethoven‹.«
»In diesem Song hörte ich zum ersten Mal die Liedzeile ›Satisfy my soul with rock ’n’ roll‹, sagte Bernstein, »und ich bin fast ausgerastet, als ich Ella (meinen Engel!) diesen Song singen hörte … Sie sehen, bei mir kann man noch etwas lernen! [Er sieht auf die Uhr.] Aber jetzt reden wir schon seit über zwei Stunden, Jonathan, und wahrscheinlich ist der Tisch drüben bereits gedeckt. Also lassen Sie uns beim Essen weiterreden.«
* * *
[Wir gehen zurück ins Wohnhaus und setzen uns an den Esstisch. L. B. schenkt mir und sich selbst ein Glas Rotwein ein. Sein Assistent, der das Essen für uns zubereitet hat, trägt zwei Teller mit Radicchiosalat herein.]
Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mich zum Dinner eingeladen haben.
Wissen Sie, Jonathan, ich gebe eigentlich keine Interviews mehr, schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Sie sind eine große Ausnahme, ich weiß selber nicht, warum ich das mache. Und Sie haben mich an einem guten Tag erwischt – ich bin sehr gut in Form. Vielleicht weil ich heute Morgen ein kleines Stück für meine Enkelin Francisca (die wir Frankie nennen) geschrieben habe. Es heißt »Dancisca« – man kann dazu tanzen. Bis jetzt ist es erst eine Seite, aber es wird schon noch mehr werden.
Und wussten Sie, dass es das erste Stück ist, das ich in diesem ganzen Jahr geschrieben habe, diese eine Seite? Ich habe mich so nach Einsamkeit gesehnt. Bis auf die letzten paar Wochen bin ich in letzter Zeit nie allein gewesen, und jetzt nur für ein paar Tage … ich bin dabei, mit den New Yorker Philharmonikern den ganzen Copland und den ganzen Tschaikowsky aufzuführen, und ich bereite ein Konzert und die Einspielung meines Candide in London vor, Anfang Dezember – das ist sozusagen jetzt. Zum ersten Mal dirigiere ich das ganze Stück – vorher hatte ich nur einmal die Ouvertüre dirigiert –, und wir werden es aufnehmen und filmen, mit dem London Symphony Orchestra und mit June Anderson, Christa Ludwig, Nicolai Gedda, Jerry Hadley … Adolph Green wird den Pangloss spielen. Eine wunderbare Truppe.
Als ich mir heute Nacht um vier die Zähne putzte, hörte ich etwas von meinem neuen Stück – zuerst die Rhythmen und dann die Melodie –, aber dann habe ich mich von einem Kreuzworträtsel ablenken lassen und vergessen, es aufzuschreiben. Als ich aufwachte, hörte ich es wieder, unter der Dusche, und diesmal schrieb ich alles nieder, bevor ich mich zum Frühstück setzte … dann ging ich ins Studio und beendete es. Kurz bevor Sie kamen, schrieb ich den Schlussstrich. Das ist mein erster Schlussstrich in diesem Jahr!
Sie haben einmal gesagt: »Ich bin ein fanatischer Liebhaber von Musik. Ich kann nicht einen einzigen Tag verbringen, ohne Musik zu hören, zu spielen, zu studieren oder über Musik nachzudenken.« Wann hat diese Obsession angefangen?
Ich habe Musik schon immer geliebt, schon als kleines Kind. Wir hatten eines dieser großen, altmodischen Radiogeräte zu Hause, und ich habe wie ein Wahnsinniger davor gesessen. Ich hörte Bing Crosby und Rudy Vallée, aber ab und zu gab es auch eine Sendung, bei der ein Sinfonieorchester mitwirkte. Zu dieser Zeit wusste ich nicht, was ein Sinfonieorchester ist, ich wusste nicht einmal, dass es eine Welt der Musik gab, in der man eine Eintrittskarte kaufen und ein Konzert besuchen konnte. Ich war vierzehn, als ich mein erstes Konzert besuchte, und das war eine Offenbarung. Es war eine Benefizveranstaltung der Boston Pops für die Synagoge meines Vaters – er musste hingehen, weil er der stellvertretende Vorsteher der Synagoge war –, und bei diesem Konzert verliebte ich mich in Ravels Boléro .
Mein Vater war dagegen, dass ich mich ernsthaft der Musik widmete. Wir waren eine sehr unmusikalische Familie, und wir hatten nie ein Klavier, bis 1928, als meine Tante Clara ihr
Weitere Kostenlose Bücher