Leonard Bernstein
… und es ließ mir nicht viel Zeit, um mit den anderen Kindern Ball zu spielen. Als ich vierzehn war, begann ich dann auch, den jüngeren Kindern aus unserer Nachbarschaft in Roxbury Klavierstunden zu geben. Der älteste meiner noch lebenden Freunde, er heißt Sid Ramin, gehörte zu meinen Klavierschülern damals. Wir sind genau gleich alt, und Sid ist ein unglaublich erfolgreicher Arrangeur und Komponist, er macht Werbejingles für Fiat und Pepsi-Cola. Und er half mir sehr viel bei der Instrumentierung meiner eigenen Werke, zum Beispiel bei West Side Story , A Quiet Place und Mass . Er ist der Erste, an den ich mich wende, wenn ich jemanden brauche, der mir meine Partituren schreibt, wenn ich selbst keine Zeit habe.
Ganz schön begabt, die Kinder damals bei Ihnen in Boston.
Es gibt überall begabte Kinder, nicht nur in Neuengland, auch im Süden, im Mittleren Westen, in Omaha oder Joplin, in Missouri … aber inzwischen ging ich nach der normalen Schule noch in die jüdische Schule. Ich hielt meine Bar-Mizwa-Rede auf Hebräisch und auf Englisch. Denn natürlich wollte ich nicht nur eine Bar-Mizwa-Rede halten, sondern es mussten unbedingt zwei sein! Und durch die konservative Synagoge, zu der wir gehörten, kam ich auch mit Livemusik in Berührung. Es gab eine Orgel, einen Kantor mit einer guten Stimme – Kantor Glickstein – und einen Chor, geleitet von einem fantastischen Mann namens Solomon Braslavsky, einem aus Wien stammenden Professor. Er komponierte großartige, oratorienhafte liturgische Werke, die sich an Mendelssohns Elias , Beethovens Missa Solemnis und sogar Mahler orientierten. Oft weinte ich, wenn ich dem Chor, dem Kantor und dieser donnernden Orgel lauschte – das übte einen starken Einfluss auf mich aus. Ich bemerkte Jahre später, dass der gang call – der Signalruf der Jets – in West Side Story eigentlich wie der Ton des Schofars klingt [er singt: Ba-dahhh dam ! Ba-diiii dam !], der an Rosch Haschana in unserer Synagoge geblasen wurde.
Ich glaube, dass sogar Mahler den Klang des Schofars benutzt .
Sieh an! Tja, wir haben einiges gemeinsam, was die Herkunft betrifft.
Ich frage mich, wie der Sederabend an Pessach in Mahlers Familie aussah, als er in Böhmen aufwuchs.
Wir haben bei unseren Familien-Sederabenden immer versucht, sie mit einem Minimum an Geschwafel und einem Maximum an Erklärungen zu absolvieren, und es sollten immer weit mehr als vier Fragen gestellt werden. Und dann fingen die Erwachsenen an zu feilschen und zu streiten wie Rabbis. Manchmal endeten die Sederabende mit wunderbarem Tanzen und Singen, und manchmal brachen schreckliche Diskussionen aus: »Nein, das ist unmöglich! Diese Erklärung kann nicht stimmen, die Haggada hat unrecht.« Zu viele Köche verderben eben den Brei – besonders, wenn es jüdische Köche sind.
In Ihren Young People’s Concerts und anderen Fernsehsendungen, durch Bücher, Vorträge und Konzerteinführungen haben Sie über vierzig Jahre lang als Pädagoge gewirkt. Und Sie sprachen einmal von Ihrem »alten, sozusagen rabbinischen Instinkt« beim Unterrichten, Erklären und Formulieren. Es heißt, dass in der traditionellen jüdischen Gesellschaft ein Kind, wenn es sechs oder sieben Jahre alt war, von einem Rabbiner zum ersten Mal in die Schule gebracht wurde, wo es eine saubere Schiefertafel erhielt, auf die die Buchstaben des hebräischen Alphabets mit Honig geschrieben standen. Wenn es die Tafel ableckte und dabei den Namen jedes Buchstabens rezitierte, wurde dem Kind auf diese Weise beigebracht, sein Studium für süß und begehrenswert zu halten.
Gesellschaften mit einer Schriftkultur schätzen diese sehr hoch, besonders wenn sie von Feinden umgeben sind. Wenn Sie als Muslim in einer Hindugesellschaft leben oder als Hindu in einer muslimischen Gesellschaft, sind Sie gezwungen, alles zu tun, um Ihre Traditionen weiterzugeben, und was immer man an geschriebenen Worten hat, wird mit Honig überzogen, damit Kinder sie ablecken.
In der jüdischen Tradition gab Gott dem Menschen, der so viel Mühsal und Zores hatte, nach der Verbannung aus dem Garten Eden nur ein einziges Geschenk: Es nannte sich Alphabet und bestand aus zweiundzwanzig hebräischen Buchstaben. Diese wurden angeblich im Feuer präsentiert … und deshalb sehen diese Buchstaben mit ihren Strichen und Serifen wie Flammen aus. Sie brennen. Und man kann auch noch auf das Pfingstwunder hinweisen, als die Jünger in fremden Sprachen redeten, mit Flammen, die vom Himmel herabkamen.
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