Leonard Bernstein
›Freiheit‹ ersetzen. Denn wenn der Chor singt ›Alle Menschen werden Brüder‹ ergibt ›Freiheit‹ mehr Sinn, oder?«
»Sicher. Ich würde so gern dabei sein!«, rief ich aus.
»Dann kommen Sie mit nach Berlin. Alle meine Kinder kommen, wenn sie Zeit haben.«
»Im Ernst? Und wie komme ich ins Konzert rein?«
»Klopfen Sie dreimal«, antwortete er trocken, »und fragen Sie nach Joe!«
Vielleicht hätte Joe mir freundlich die Tür geöffnet und mich unter seine Fittiche genommen, aber ich flog nicht nach Berlin, und ich werde es ewig bedauern, diese zwei Konzerte verpasst zu haben. Glücklicherweise wurde das Weihnachtskonzert im Ostberliner Schauspielhaus live in mehr als zwanzig Länder übertragen. Schätzungsweise einhundert Millionen Leute sahen es. 1990 erschien dann die Aufnahme dieses ergreifenden Konzerts, Ode an die Freiheit: Bernstein in Berlin .
»Und übrigens«, sagte ich zu Bernstein, »ich weiß, wie sehr Sie diese Art von Fragen hassen, aber ein guter Freund von mir bat mich, Sie zu fragen, wer Sie am meisten beeinflusst hat.«
»Okay«, entgegnete er seufzend, »sagen Sie Ihrem Freund einfach: Laotse, Moses, Jesus, Thomas Mann, Nabokov, Baudelaire, T. S. Eliot, Shakespeare, Rabelais … aber vor allem meine Studenten. Doch bevor wir auflegen«, fügte er hinzu, »muss ich Ihnen noch berichten, dass ich gestern das bewegendste Fax meines Lebens bekam, vom Leiter des Musikfestivals ›Prager Frühling‹. Wissen Sie, dieses Festival fand zum ersten Mal im Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt, 1946. Und ich war da. Die Tschechoslowakei war das erste europäische Land, das ich kennenlernte … und dann Holland – diese zwei Länder mit ihren unsäglichen Sprachen waren mein Auftakt zu Europa. Und 1947 fuhr ich wieder zum Prager Frühling. Aber 1948 wurde ich nicht eingeladen, weil Russland die Macht übernahm, damit war das erledigt. Und jetzt habe ich gerade dieses Fernschreiben bekommen, in dem es heißt: »Sie waren schon hier, als alles anfing, und damals versprachen Sie uns, wiederzukommen, wenn es Frühling wäre in den Herzen all unserer Landsleute. Dieser Moment ist jetzt gekommen.« Also fliege ich Anfang Juni wieder nach Prag, um das Konzert zu dirigieren, das den Höhepunkt des Festivals bilden wird, das obligatorische Programm mit – dreimal dürfen Sie raten: Beethovens Neunter. Ich könnte einen Beruf daraus machen, in befreiten Ländern Beethovens Neunte zu spielen. Nordkorea und China werden auch noch kommen. Ich kann es kaum erwarten.«
Bernstein hatte liebenswürdigerweise alle meine Fragen beantwortet; und wie versprochen schickte er mir, nachdem er zehn Tage später die radikal gekürzte Achttausend-Wörter-Version unseres zwölfstündigen Gesprächs von mir erhalten hatte, das Manuskript mit seinen Korrekturen und Anmerkungen sofort zurück. Darunter hatte er geschrieben: »Lieber JC , es gefällt mir sehr. Schade, dass Sie unsere Psychothemen und unsere Sibelius-Improvisation am Anfang – d. h. die eher überraschenden Dinge – nicht mit hineinnehmen konnten. Aber wie er so dasteht, ist es ein wunderbarer Text. Glückwunsch und herzliche Grüße, LB .«
Bei unserem Gespräch in Connecticut war Leonard Bernstein selten um ein Wort oder eine Zigarette verlegen gewesen; gelegentlich hatte ihn ein quälender Husten mitten im Satz zum Innehalten gezwungen. Sein Leben lang hatte er mehrere Päckchen Zigaretten täglich geraucht, obwohl er mit Mitte zwanzig von einem Emphysem in seiner Lunge erfahren hatte, wie er 1988 einem Journalisten von USA Today einmal ganz lakonisch erzählt hatte: »Mit fünfunddreißig hätte ich tot sein sollen. Dann sagten sie, ich würde mit fünfundvierzig sterben. Dann mit fünfundfünfzig. Aber Sie sehen, ich hab’ überlebt. Ich rauche. Ich trinke. Ich bleibe nächtelang auf. Ich treibe mich herum. Bei mir gibt es immer von allem ein bisschen zu viel.« Selbst der wie eine Warnung klingende Vers in seiner eigenen West Side Story : »When you’re a Jet, you’re a Jet all the way / From your first cigarette to your last dyin’ day« [Wenn du ein Jet bist, bist du immer ein Jet / Von der ersten Zigarette bis zu deinem Todestag], hat ihn nicht von seinem alles verzehrenden Verlangen nach Nikotin abhalten können. Ohne Wissen der Öffentlichkeit hatte er im April 1990 mit einer Strahlenbehandlung begonnen, um einen bösartigen Tumor – ein Mesotheliom – zu bekämpfen, der das Brustfell angreift. Doch er blieb ungebrochen und
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