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Leonard Bernstein

Leonard Bernstein

Titel: Leonard Bernstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Cott
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er sich konzentrieren musste, wie er sie unterteilen oder besonders betonen musste, und dann auch, wie er zu seiner Reprise zurückkehren würde – ganz unauffällig, oder mit einem Crescendo oder mit einem überraschenden Ausbruch. All das ist das Erstaunliche. Und denken Sie daran, dass ich bis jetzt nur über einen einzigen Satz gesprochen habe. In einer durchschnittlichen Sinfonie oder Sonate oder einem Concerto haben wir es mit zwei oder drei Sätzen zu tun, über die wir nachdenken müssen: Was gehört wohin, in welcher Tonart soll es stehen, soll es ein Andante sein oder ein Adagio, und sollte es ein Menuett geben oder nicht. Wenn Mozart kein Menuett oder Rondo ans Ende setzt, ist es eine Ausnahme. Und damit gab es ein weiteres Problem, das er sich selbst stellte, das weitere Gedankenfolgen erforderte, eine andere Art, zu denken.
    Und ich sage nicht, dass Mozart das nur zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben tun konnte, denn es gab viele Zeiten, in denen er betrunken war und Quatsch machte oder Billard spielte. Aber irgendwie konnte er aufhören mit dem Billardspielen, es kam dieser Moment – und er sah einfach alles vor seinem inneren Auge.
    Heutzutage kann so etwas, glaube ich, niemand mehr machen, weil wir nicht diese Voraussetzung eines festgesetzten Regelwerks haben. Heute können wir aus dem großen Suppentopf schöpfen, in dem es alle Arten von seriellen Techniken gibt oder den wilden Chromatismus von Wagner oder Skrjabin oder Mahler oder den Neoklassizismus von Bach oder Mozart oder die Neoromantik von Chopin.
    Worauf es ankommt, ist, dass es kein Gesetz gegen irgendeine Art von Musik geben sollte. Das heißt, das Gegenteil dessen, was in der Zeit galt, als die meisten Komponisten sagten, die Tonalität sei tot und serielle Musik das einzig Wahre. Serielle Musik kann natürlich immer noch geschrieben werden, es gibt keinen Grund, warum das nicht geschehen sollte. Und Zwölftonmusik ist großartig, und Dadaismus ist großartig, und alle möglichen Arten von Musik sind großartig, aber nicht auf Kosten der Tonalität, die den Nährboden für die Musik bildet.
    Was halten Sie von der neuesten sogenannten Minimal Music?
    Ja, damit findet man einen anderen Weg, tonal zu sein, ohne sich zum Idioten zu machen … aber manchmal klingt es am Ende doch idiotisch – je nach dem Talent des Komponisten. Steve Reich zum Beispiel ist ein sehr talentierter Mann, und deshalb klingt seine Musik ganz anders als die manch anderer Komponisten.
    Einige versuchen auch, tonal zu sein, indem sie mit »Andeutungen« arbeiten; sie nehmen Zitate von Bach oder Beethoven und entstellen sie irgendwie, oder teilen das Orchester in zwei Teile auf: Der eine Teil spielt dann Scarlatti, und der andere spielt Toncluster.
    Ich stelle auch fest, dass es neuerdings offenbar ein Interesse daran gibt, Komponisten wie Boccherini oder Jacques Ibert, die man früher einmal für geistlos hielt, neu zu bewerten.
    Wovon Sie sprechen, ist Intelligenz und Witz. Das müssen wir neu erkunden. Darum geht es hauptsächlich bei Strawinsky in seiner neoklassischen und in seiner Ragtime-Periode.
    Ich denke auch an Kurt Weill, der am Anfang von Zwölftonkomponisten wie Schönberg schlechtgemacht wurde. Schönberg sagte, Franz Lehár sei viel besser als Weill; und am Ende kreidete man ihm an, dass er am Broadway arbeitete. Aber heute kann man sein ganzes Werk klarer sehen.
    Noch einmal: Vergessen Sie nicht seinen Witz. Seinen enormen Witz. Das ist die Boccherini-Ibert-Abteilung. Und Scarlatti. Und Mozart, um Gottes willen. Witz wurde immer abgetan als seicht, und deshalb nicht ernst zu nehmen. Nur weil solche Musik eben nicht Brahms ist.
    In Wagners Meistersingern singt Hans Sachs: »Ihr schlosset nicht im gleichen Ton / das macht den Meistern Pein, / doch nimmt Hans Sachs die Lehr davon, / im Lenz wohl müsst es so sein.« Und angesichts dieser Verse schrieb der atonale Zwölftonkomponist Arnold Schönberg, dass es in der Entwicklung der Kunst immer sein müsse wie im Lenz! Obwohl es in der heutigen Musik die vorgegebenen Regeln nicht mehr gibt, von denen Sie sprachen, scheinen Sie selbst an die beständige Frühlingshaftigkeit der Musik zu glauben, an eine fortwährende Frühlingsweihe …
    Allerdings! Für mich hat das eine sehr tiefe Bedeutung …
    Und okay, mein lieber Junge, ich habe gerade auf die Uhr geschaut und bemerkt, dass es jetzt halb drei ist. Verdammt noch mal! Also haben wir zwölf Stunden lang geredet!
    [L. B. und ich stehen

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