Leonard Bernstein
auf.]
Ich weiß, dass ich es jetzt auf die Spitze treibe … aber darf ich noch eine letzte Frage stellen?
Bestimmt nur noch eine?
Versprochen. Und ich weiß, Sie mögen es nicht, nach Lieblingsdingen gefragt zu werden. Aber nur dieses eine Mal: Wenn Sie aus Ihrer Sammlung von vielleicht vierhundert CD s ein einziges Album empfehlen sollten, das für Sie von ganz besonderem Wert ist, welches würden Sie auswählen?
Ich liebe die Einspielung meines Konzerts der Siebten von Schostakowitsch mit dem Chicago Symphony Orchestra – das ist mehr, als ein Album sein kann … Aber kommen Sie her.
[Ich gehe zum CD -Spieler hinüber; L. B. hält eine CD hoch.]
Aber das hier ist mein persönliches Lieblingsalbum; keine Aufnahme, die ich je gemacht habe, liegt mir so am Herzen – wenn Sie es wirklich wissen wollen.
[L. B. legt die CD ein und sagt, dass wir eine Orchesterbearbeitung von Beethovens Streichquartett Nr. 14 cis-Moll op. 131 hören werden, die er 1977 mit den sechzig Streichern der Wiener Philharmoniker einspielte.]
Das ist so wunderschön und außergewöhnlich, dass ich es meiner Frau gewidmet habe – es ist die einzige Aufnahme, die ich je irgendjemandem gewidmet habe. Und ich musste mit den Streichern der Wiener Philharmoniker Kämpfe ausfechten, damit sie es spielten – ich habe tatsächlich Briefe von ihnen bekommen, in denen sie schrieben, dass das Ganze einfach unmöglich sei: »Wenn vier Leute es schon nicht spielen können, wie sollen es sechzig hinkriegen?«
Wir hatten sieben Bässe – ich habe sie verdoppelt –, und ich habe Bässe noch nie so herrlich spielen hören. Die Anzahl der Celli haben wir vorsichtig erhöht, aber ich habe keine einzige Note oder Phrasierung verändert. Und am Ende waren sie begeistert. Man versteht nichts von Mahler, wenn man dieses Stück nicht versteht, das berührt und zugleich schmerzt – mit diesem schwebenden Kontrapunkt. Wir führten es im Odeon des Herodes Atticus in Athen auf, im Freien, und die Zuhörer haben fast den Verstand verloren. Ich spiele es Ihnen vor.
Aber Sie müssen völlig fertig sein.
Egal. Sie müssen ein kleines bisschen davon hören … wir fangen mittendrin an, beim Scherzo, das ich von allen Scherzi am meisten liebe. Hören Sie zu!
[Unvermittelt, wie ein Donnerschlag, erklingt der éclat des Eröffnungsakkords des Scherzos – gespielt in explosiver Lautstärke –, der mich buchstäblich von den Lautsprechern wegstößt; aber gleich darauf zieht mich das unablässige Auf und Ab dieser ozeanischen Musik wieder an, und währenddessen singt L. B. die inneren Stimmen des Quartetts und gibt dazwischen lautstark Kommentare in meine Richtung ab, die sich auf die strukturellen Details beziehen.]
Ich habe nie begreifen können, wie Beethoven dieses Meisterwerk erschaffen konnte, obwohl er völlig taub war – aber vielleicht konnte er beim Komponieren irgendwie sein tiefstes Selbst hören. Und Ihre Einspielung gibt mir das Gefühl, als wäre ich in Beethovens Gehirn eingedrungen.
Ja, in sein Gehirn … wir müssen es schaffen, in sein Gehirn vorzudringen. Aber Sie sollten auch die Fuge am Anfang hören. Noch ein Glas Wein, Jonathan, und wir hören uns die Fuge an … und dann machen wir Schluss.
Aber sie ist doch schon in Ihrem Kopf; und Sie können sie auswendig.
Ich weiß, aber ich will sie mit Ihnen zusammen hören. Tut mir leid, dass wir am Ende angefangen haben, aber das hier ist so unfassbar, dass Sie nicht glauben werden, was Sie da hören. Denn hier schrieb Beethoven das Unmögliche. Es geht plötzlich nicht mehr um die vier Menschen, die miteinander kämpfen, sich um ein Stück Erde streiten. Es ist einfach ein endloser Bogen, eine Liebesgeschichte. Und es war so viel Liebe auf der Bühne, als wir das spielten, jeder liebte jeden, und jeder hörte zu: »Ja, wir hören euch, wir hören euch, ihr Lieben!«
[Und L. B. und ich lauschen der Fuge schweigend. Als sie verklingt (»Wie eine Sternschnuppe, eine Fata Morgana, eine Flamme, ein Zaubertrick, ein Tautropfen, eine Luftblase, ein Traum«, in den Worten Buddhas), wendet sich L. B. zu mir.]
Und das, mein Freund, ist das Ende vom Lied. Bis zum nächsten!
3 Englischer Theater- und Opernregisseur, gestorben 1990.
4 Bis 2011 Cheftheaterkritiker der New York Times .
5 Geboren 1930, schrieb die Texte der West Side Story .
6 Sie wurden unter dem Titel »The Unanswered Question« [ dt. Musik – die offene Frage ] publiziert.
7 Am 7. Dezember 1980.
8 John Lennon, der ebenfalls im
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