Leonard Bernstein
schaffte es, sein Versprechen einzuhalten, Anfang Juni auf dem Festival »Prager Frühling« aufzutreten und, wie sich herausstellen sollte, seine letzte Neunte von Beethoven zu dirigieren.
Nur vier Monate zuvor – trotz seiner damals schon spürbar nachlassenden Gesundheit – war Bernstein nach Wien geflogen, um ein weiteres Versprechen einzulösen. Mitte der Achtzigerjahre hatte die deutsche Musikproduktionsfirma Unitel zusammen mit der Deutschen Grammophon begonnen, Bernsteins zweite vollständige Einspielung der sieben Sibelius-Sinfonien aufzunehmen und zu filmen. Der Maestro hatte in den Sechzigerjahren als erster Dirigent den gesamten Sibelius-Zyklus mit den New Yorker Philharmonikern aufgenommen. Es stellte sich heraus, dass es die 1967 aufgezeichnete 1. Sinfonie von Sibelius auf Vinyl (Columbia Records) war, die er mir zu Anfang unseres Gesprächs in seinem Musikstudio vorgespielt hatte, weil er – wie er mir erzählte – zur Vorbereitung auf das Konzert mit den Wiener Philharmonikern seine Erinnerung daran auffrischen wollte.
Unitel hatte zuvor Bernsteins neue Versionen der 2., 5. und 7. Sinfonie von Sibelius gefilmt; und jetzt, Anfang Februar 1990, kehrte er nach Wien zurück, um die Erste von Sibelius aufzunehmen – die 3., 4. und 6. Sinfonie sollten zu einem späteren Zeitpunkt folgen. Es gab Kritiker, die meinten, dass die eher kontemplativen, in langsameren Tempi gehaltenen Aufnahmen, die Bernstein mit den Wiener Philharmonikern in den letzten zehn Jahren seines Lebens einspielte, auf eine Art musikalischen Burnout hinwiesen, dass sie ein Zeichen von Schwäche seien und auf die Abnahme seiner einst glanzvollen, dynamischen, äußerst spannungsreichen interpretatorischen Kräfte schließen ließen. In Wirklichkeit zeugen Bernsteins späte Neuaufnahmen der Sinfonien von Sibelius, Tschaikowsky, Brahms und besonders Mahler von einem tiefen Verständnis für die Geheimnisse des Lebens sowie von hart erarbeiteter musikalischer Weisheit und von wunderbarer Ruhe wie nach einem heftigen Sturm.
Wenn man sich die bemerkenswerte DVD der Aufführung von Bernsteins neu erarbeiteter Interpretation der 1. Sinfonie von Sibelius (mit Humphrey Burton als brillantem Regisseur) ansieht, bemerkt man von Anfang an durch den gedämpften Habitus, die zurückhaltende Mimik des Dirigenten eine Eigenschaft, die man mit dem Begriff »Abendmüdigkeit« umschreiben könnte. Wir sehen Bernstein am Pult, wie er für einen Moment die Augen schließt und dann ganz ohne Hast mit der linken geschlossenen Hand den gewundenen, traurigen Melodiebogen der Klarinette nachzeichnet, die an den einsamen Klang der uralten, von finnischen Hirten gespielten Lure erinnert.
Plötzlich erwecken tremolierende Streicher und schallende Bässe das Orchester zum Leben und bringen ein Werk in Gang, das, laut einem von Sibelius’ ersten Kritikern aus dem beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, »neue Pfade beschreitet – oder vielmehr vorwärtseilt wie ein berauschter Gott«. Und gleich einem wiedergeborenen Dionysos bringt Leonard Bernstein mit zuckender Miene, mit Händen und Körperbewegungen das Orchester dazu, den sprunghaften Geist der Sinfonie aufzunehmen, und wechselt dann ständig die Stimmung, von Gleichgültigkeit zu Melancholie, von Kühle zu brennender Glut (und wieder zurück). Es ist eine beispiellose Orchesterleistung – und die letzte Einspielung, die es von Bernstein gibt, neben der 9. Sinfonie von Bruckner, mit den Musikern, die er einmal »meine Kinder und Brüder« nannte. Oft hat er diese Musiker gebeten, seinen eigenen, Keats’schen Sinn für Schönheit nachzuvollziehen, der aus den berühmten Zeilen spricht: »Schönheit muß dahin! – und Glück, das immerdar mit Hand und Mund zum Abschied grüßt …« 22
Ein halbes Jahr später fuhr Bernstein trotz nachlassender Kräfte von New York nach Tanglewood – dem Sommerdomizil des Boston Symphony Orchestra in Massachusetts –, um sich seinen letzten großen Wunsch zu erfüllen. Im Jahr 1940 hatte hier Sergei Kussewizki, der damalige musikalische Leiter dieses Orchesters, den Zweiundzwanzigjährigen in den Kreis seiner fünf Dirigierschüler aufgenommen. »Kussewizki unterrichtete seine Schüler, indem er einfach Begeisterung in ihnen weckte«, sagte Bernstein in seinem Vortrag »A Tribute to Teachers« in einem Young People’s Concert von 1963. »Er lehrte alles durch das Gefühl, durch Instinkt und Emotion. Selbst die rein technischen Dinge wie das Taktschlagen, das
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