Leonard Bernstein
fürchte mich vor dem Sterben … wenn man aufhört, das Leben zu lieben, wenn die Last des Todes alles bestimmt, ach, was soll es dann noch, alles ist so sinnlos. Liebe ruft Tränen hervor, aber ich kann nicht weinen.«
Am 13. Oktober besuchte ihn ein Freund, und auf Bernsteins Bitte hin las er ihm eine Reihe von Gedichten des persischen Mystikers Dschalaleddin Rumi aus dem dreizehnten Jahrhundert vor, besonders die Verse, die Rumi auf seinem Sterbebett geschrieben hatte:
»Heute Nacht sah ich im Traum einen alten Mann in einem Garten.
Es war alles Liebe.
Er streckte die Hand aus und sagte: Komm zu mir.«
Leonard Bernstein starb am Abend des folgenden Tages um 18.15 Uhr. Sein Arzt, Kevin Cahill, gab als Todesursache einen Herzinfarkt an, der von einem fortschreitenden Emphysem verursacht wurde, verstärkt durch einen Tumor des Rippenfells und eine Reihe von Lungeninfektionen.
Man bat seinen Assistenten Craig Urquhart, die Kleider auszuwählen, in denen Bernstein begraben werden sollte. In seiner Bernstein-Biografie berichtet Humphrey Burton, ein Freund und Mitarbeiter des Dirigenten, dass Urquhart »einen dunklen Anzug bereitlegte, den Bernstein immer bei den Sonntagskonzerten der Wiener Philharmoniker trug, dazu seine Halbrandbrille, die er zum Dirigieren aufsetzte, ein rotes Seidentaschentuch für die Jacketttasche, die Bandschnalle des Kommandeurs der Ehrenlegion und seine Lieblingsstiefel. Ein Taktstock und die Partitur von Mahlers 5. Sinfonie wurden ihm ebenfalls mitgegeben. In seiner Tasche befanden sich ein Glückspfennig und ein Stück Bernstein. Die Kinder legten noch ein Buch dazu, Alice im Wunderland .«
Vor dem Lincoln Center in New York – Sitz der New Yorker Philharmoniker – wurden die Fahnen auf halbmast gesetzt. Die Lichter am Broadway wurden abgeblendet. Die private Trauerfeier für enge Freunde und Familienangehörige fand am Morgen des 16. Oktober in Bernsteins Wohnung im Dakota Building statt, wo man seinen Mahagonisarg feierlich aufgebahrt hatte. Danach fuhr ein aus zwanzig schwarzen Stretchlimousinen bestehender Trauerzug mit Polizeieskorte langsam durch die Straßen von Manhattan über die Brooklyn Bridge zum Green-Wood Cemetery, wo Leonard Bernstein neben seiner Frau Felicia begraben wurde. Der Trauerzug passierte einige Bauarbeiter am Straßenrand. Sie nahmen ihre gelben Helme vom Kopf, winkten und riefen: »Goodbye, Lenny!«
* * *
Heute, fast ein Vierteljahrhundert später, denke ich zurück an diesen Novemberabend 1989, der mit dem frühen Sibelius begonnen und mit dem späten Beethoven geendet hatte. Ich werde niemals vergessen, wie ich um drei Uhr morgens neben Leonard Bernstein vor seinem CD -Player im Wohnzimmer seines Hauses in Fairfield, Connecticut, stand und mich dieses ekstatische Gefühl erfasste, als ob ich mich hoch in die Lüfte erhob, um dann aus meinem Körper hinauszuströmen. In Wahrheit stand ich ganz still und lauschte der Aufnahme des Streichquartetts cis-Moll von Beethoven, die Bernstein 1977 mit den göttlichen Streichern seiner geliebten Wiener Philharmoniker eingespielt hatte. Ich fühlte mich wie mit ausgebreiteten Flügeln auf kontrapunktischen Strudeln, Aufwinden und Strömungen dahingleiten und begann schließlich im Windschatten meines furchtlosen, einzigartigen und immer hochfliegenden Gastgebers zu schweben.
21 Lewis Carroll, Alice im Wunderland , dt. von Kurt Schrey, München 1966.
22 John Keats, » Ode auf die Melancholie « , in Gedichte, zweisprachig , dt. von Heinz Piontek, München 1984.
Auswahlbibliografie
Von Leonard Bernstein verfasste Bücher:
– Freude an der Musik , München 1963/1982.
– Musik – die offene Frage. Vorlesungen an der Harvard-Universität , München 1981.
– Erkenntnisse , Hamburg 1983/1990.
– Von der unendlichen Vielfalt der Musik , München u. a. 1984.
– Konzert für junge Leute , München u. a. 1985/2007.
– Musik für junge Leute. Die Welt der Musik in 9 Kapiteln , München 1988.
– Ausgewählte Texte , München 1988.
– Musik. Eine Liebeserklärung , München 2000.
Bücher über Leonard Bernstein:
Bernstein, Burton, Family Matters, Sam, Jennie, and the Kids, New York 1982.
Bernstein, Burton, und Haws, Barbara B ., Leonard Bernstein: American Original , New York 2008.
Burton, Humphrey, Leonard Bernstein. Die Biographie , München 1994.
Gottlieb, Jack (Hg.), Bernstein on Broadway , New York 1981.
– Working with Bernstein , New York 2010.
Gruen, John, The Private World of Leonard
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