Léonide (German Edition)
die Dinge grau und hoffnungslos erscheinen lässt. Mein Kö r per und mein Geist sind taub und müde und es scheint, als wären meine Geda n ken das E inzige , was mir geblieben ist.
Willems Stimmungen wechseln wie das Wetter und sind ebenso unvorhersehbar. Mitunter leidet er unter Depressionen und heftigen Anfällen, dann wiederum erholt er sich so weit, dass die Schwestern ihm erlauben, die Tage im Freien zu ve r bringen und zu malen. Oft packt ihn die Arbeitswut und er malt tagelang, ohne sich für einen Menschen zu interessieren, zu essen und zu schlafen, ehe er wieder einen Zusamme n bruch erleidet. Auf diese Weise häuft er in wenigen Wochen eine Unmenge von Gemälden an, die er mit Erlaubnis der Schwestern in einer separaten Zelle des Klosters unterbringt.
Mit der Zeit bestätigen sich meine Befürchtungen: Die Ne r venheilanstalt bietet Willem zwar Raum, doch man kann ihm auch dort nicht helfen. Im Verlauf der Wochen schwinden unsere Hoffnungen, er könn t e bald zu uns zurückkehren. Die Schwestern kümmern sich nur selten um Willem, und auch zu seinen Mitpatienten hat er keinen Kontakt. Die einzige Ther a pie, die er bekommt, ist jene Hydrotherapie, von der er mir erzählt hat. Sie bringt es mit sich, dass er zweimal in der W o che von den Schwestern gebadet und stundenlang wiede r holt in einen großen Badezuber getaucht wird. W elchen Erfolg ve r spricht man sich von einer solchen Th e rapie ? Ist es nicht der Kopf, um den man sich kümmern sol l te?
Auch ein Gespräch mit Willems Arzt, Monsieur Peyron, bringt mich nicht weiter. Peyron hat meinen Bruder kurz nach seiner Ankunft in Saint-Paul-de-Mausole untersucht und se i nen Fall studiert. Er ist überzeugt, dass Willem an einer Art von Epilepsie leidet, die durch die mediterrane Sonne verstärkt wird. Ich verstehe seine Diagnose genauso wenig wie den G e danken, mehrmaliges Eintauchen in einen B a dezuber könn t e meinem Bruder helfen, hake aber nicht weiter nach, um die Autorität des Arztes nicht infrage zu stellen.
Bei einem meiner Besuche erzählt mir Willem, er glaube nicht daran, dass die Menschen in Saint-Paul-de-Mausole in der Lage seien, ihm zu helfen. Durch die Schreie seiner Miti n sassen fühle er sich abgestoßen, das Essen sei ungenießbar.
»Findest du es nicht deprimierend, wie mit den Patienten umgegangen wird?«, fragt er, während er fieberhaft an einer Kohlezeichnung arbeitet. »Sie sitzen den ganzen Tag herum, ohne die Zeit zu nutzen, die man ihnen gegeben hat. Sie sind vollkommen untätig, niemand spricht mit ihnen oder gibt ihnen Anregungen. Was sie hier führen, ist kein Leben.«
Mit jedem Tag, der vergeht, wächst meine Überzeugung, Willem zurück nach Hause holen zu müssen. Ich weiß, es geht ihm in der Nervenheilanstalt nicht besser als bei uns zu Hause, und das wird es vermutlich auch nie.
Als ich meinem Vater an einem warmen, klaren Septembe r morgen auf all das anspreche, wiegelt er ab und spricht davon, Willem nun, da ihm geholfen würde, auf keinen Fall aus seiner gewohnten Umgebung reißen zu wollen. Ich verzichte darauf, Théodore daran zu erinnern, dass die Hilfe in Wirklichkeit gar keine ist. Dass Willems Leben noch einsamer, noch leerer g e worden ist.
»Aber das hier ist seine gewohnte Umgebung!« Meine Gestik schließt das Zimmer meines Vaters und das gesamte Haus mit ein.
Théodore schüttelt den Kopf. »Auszuharren und sich zu g e dulden sind zwei Tugenden, die du noch lernen musst, Léon i de.«
»Aber es ist vollkommen nutzlos, sich zu gedulden, wenn das, worauf man wartet, nie eintreten wird . Willem kann in Saint-Paul-de-Mausole nicht geholfen werden . «
»Schluss damit! Es wird keine Diskussion über Willems Th e rapie in der Nervenheilanstalt und deine Meinung dazu geben. Dieser Arzt – Peyron – weiß, was er tut. Das wird dir auch Monsieur Gagnier bestätigen.«
Es kostet mich alle Kraft, in Gegenwart meines Vaters nicht die Hände zu Fäusten zu ballen. Diese Sturheit, diese Unnac h giebigkeit! Will er lieber wegsehen, als sich menschliches Ve r sagen und Irrtümer einzugestehen?
»Ich verstehe dich nur zu gut.« Ich verlasse den Raum, ehe mein Vater die Chance hat, etwas zu erwidern. M eine Hände zittern , a ls ich die Tür hinter mir schließe.
Ich weiß nicht, ob ich wütend sein soll oder weinen möchte. Mein Vater wird Willem nicht nach Hause holen; wahrschei n lich war der Aufenthalt in Saint-Paul-de-Mausole nie darauf angelegt, ihn nach Hause zurückzubringen, solange sein Z u
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