Léonide (German Edition)
Minuten sei das erst her.
Ich werfe Frédéric einen verwirrten Blick zu, ehe ich mich wieder an den Wirt wende. Er überreicht wir das Päckchen, und meine Verwirrung verwandelt sich in Misstrauen.
»Wie sah der junge Mann denn aus?«
»Na, ein junger Mann war ’ s . Sein Haar hat mir ’n bisschen Angst gemacht – Solches Haar hat nur der Teufel! –, aber ich bin höflich geblieben und hab’ das Päckchen für Se entgege n genommen. Ganz braun war er im Gesicht, als würde er die meiste Zeit draußen verbring’n, so wie unsere Bauern, und seine Kleidung war schmutzig, als hätte er sie seit Wochen nich’ gewechselt – ’ne staubige Hose und Hosenträger über ’nem hellblauen Hemd.«
Unmöglich . Frédéric wirft mir einen merkwürd i gen Blick zu, der dasselbe zu sagen scheint.
Das kann nicht sein.
»Hat der Mann noch irgendetwas zu Ihnen gesagt? Ich me i ne, außer, dass Sie mir das Päckchen geben sollen? Hat er Ihnen vielleicht seinen Namen genannt?«
»Hmm, ja, das hat er wohl – ’s war ein italienischer Name, dabei sah der Mann gar nich’ wie ein Ausländer aus.«
Ich versuche, mir meine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. »Wie hieß er denn nun?«
»Hmm«, brummt der Wirt erneut, »Colombera war’s, wenn ich mich recht erinnere. Doch, ich bin mir ziemlich sicher, dass das der Name war.«
Was geht hier vor? Wer ist Colombera, und wie kann es sein, dass die Beschreibung des Wirts verdächtig nach meinem Bruder klingt? Meinem verstorbenen Bruder?
Colombera … Costanzo … Costantini.
Ich wische mir mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn, überwältigt von den Fragen, die auf mich einstürmen. »Sind Sie sich bezüglich des Aussehens und des Namens abs o lut sicher?«
Der Wirt runzelt die Stirn und bedenkt mich mit einem sä u erlichen Blick, der zu sagen scheint, dass ich seiner Me i nung nach zu viele Fragen stelle – für eine Frau. »Natürlich bin ich mir sicher.«
Ich betrachte das in Packpapier eingewickelte, mit einer Schnur zusammengebundene Päckchen, auf dem weder ein Empfänger noch ein Absender zu lesen ist. Auch der beigele g te Briefumschlag ist unbeschri ftet .
Ich bin so durcheinander, dass Frédéric sich an meiner statt bei unserem Wirt bedanken und mich mit sanftem Druck die Treppe zu unseren Zimmern hinaufbugsieren muss.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht.« Frédéric reibt sich die Stirn und betrac h tet seinerseits das Päckchen. »Ein Mann, der aussieht wie Ihr Bruder und einen Namen trägt, der unleugbar nach Costantini klingt … ? Was will der Mann von Ihnen?«
Ich verzichte darauf, Frédéric daran zu erinnern, dass der Name nicht nur verdächtig nach Costantini, sondern auch nach Costanzo klingt und er diese Tatsache unmöglich als Z u fall abtun kann.
Misstrauisch öffne ich den Brief. Das Papier raschelt und wispert, als ich es aus dem Umschlag nehme. Es ist ein einz i ger, makellos weißer Bogen, der mit wenigen Zeilen schwarzer Tinte beschrieben ist. Die Schrift des Absenders ist elegant und schwungvoll und beugt sich leicht nach rechts.
Mademoiselle Géroux,
i ch erlaube mir, Ihnen zu schreiben, um Ihnen meine Verbundenheit und mein Beileid betreffs des unglücklichen Todes Ihres Bruders Willem zu übermitteln. Anbei sende ich Ihnen ein Dokument, das rechtmäßig Ihnen gehört und in dem sie mit Sicherheit viel des Interessanten vorfinden werden. Ve r gessen Sie nicht unsere Übereinkunft. — C.
Übereinkunft? Welche Übereinkunft kann der Mann me i nen? Ist er Costantini, oder ist die namentliche Ähnlichkeit nur ein Zufall? Ich drehe und wende meine Gedanken hin und her, betrachte sie aus allen Blickwinkeln wie die Bruchstücke einer Vase, die man wieder zusammensetzen möchte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Ich reiche Frédéric den Brief und mache mich daran, das Päckchen auszuwickeln. Das braune Packpapier knistert, als ich seinen Inhalt hervorziehe. Zum Vorschein kommt ein in schwarzes Leder gebundenes Buch, auf dessen Umschlag w e der ein Name noch ein Titel zu lesen ist. Neugierig schlage ich die erste Seite auf – und erstarre. Sofort erkenne ich die enge, krakelige Handschrift, die sie ziert.
Dieses Tagebuch ist Eigentum von Willem Géroux.
» Vergessen Sie nicht unsere Übereinkunft «, murmelt Frédéric. »Was soll denn das bedeuten?« Erst dann bemerkt er, dass ich mit starrem Blick das ledergebundene Buch in meinen Händen betrachte. Seine Augen finden den einen, mit blauer
Weitere Kostenlose Bücher