Léonide (German Edition)
Tinte g e schriebenen Satz, der mich so aus der Fassung g e bracht hat.
»Ich wusste nicht einmal, dass er ein Tagebuch geführt hat«, flüstere ich.
»Kommen Sie.« Frédéric nimmt meine Hand und kramt mit der anderen nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Als sich die Zimmertür öffnet, schiebt er mich vor sich über die Schwelle.
»Setzen Sie sich.« Er schließt die Tür, nimmt mir das Tag e buch aus der Hand und legt es zusammen mit dem Brief aufs Bett. Dann ist er wieder an meiner Seite und reibt meine ei s kalten Hände, bis wieder etwas Leben in ihnen ist.
»Hat Ihr Bruder Ihnen nie von seinem Tagebuch erzählt?«
»Nein.« Ich gebe ein trockenes Lachen von mir. »Unsinnig, nicht wahr? Schließlich ist es nichts Ungewöhnliches, dass nach dem Tod eines Menschen Dinge über ihn ans Licht kommen, von denen niemand wusste. Es sollte mich nicht ve r letzen, eine so bedeutungslose Kleinigkeit über ihn zu erfa h ren. Ich habe doch nicht wirklich geglaubt, alles über meinen Bruder zu wissen? Alles mit ihm geteilt zu haben?«
»Sie sind wütend, und das ist verständlich. Man kann sich auch von Toten betrogen fühlen. Schließlich haben S ie immer geglaubt, alles über Willem zu wissen. Sie sind nicht die Einz i ge, die so fühlt. Menschen haben Geheimnisse, und wir sehen und kennen immer nur Teile des anderen, so wie unsere Mi t menschen nur Teile von uns selbst sehen.«
Ich nage an meiner Unterlippe. »Von wem ist das, von Balzac oder Hugo?«
Auf Frédérics Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, das Grübchen in seine Wangen malt. »Weder noch – es ist von Gagnier.« Er lässt meine Hände los und tritt ans Bett, um das Tagebuch zur Hand zu nehmen. »Kommen Sie – stellen wir uns dem Unbekannten.«
Wir lesen bis tief in die Nacht hinein in Willems Tagebuch. Die Einträge wecken gemischte Gefühle in mir . Zwar habe ich den Eindruck, Willem ganz nahe zu sein, andererseits e r schreckt mich, was er mit angsteinflößender Klarheit und in seiner engen Schrift, die immer wieder über ihre eigene Hast zu stolpern scheint, beschreibt.
Arles, 26. Mai
Gestern Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich träumte von einem Mann, dessen Namen ich schon oft gehört hatte, dem ich aber noch nie begegnet war. Er hieß Costantini, und aus seinen Augen sprühte trotz seines hohen Alters ein ausgeprägter Intellekt. Er sprach sehr ernst mit mir und befragte mich über meine Malerei. Es war ein so ungewöhnlicher Traum, dass es mir vorkommt, als wäre all das wirklich passiert. Aber nun rede ich wie so oft Unsinn . I ch sollte nicht zu viel auf meine Träume geben, sonst könnte es passieren, dass ich mich in meinen G e danken über sie verliere.
Das Wetter war die letzten Tage sehr schön, sodass ich regelmäßige Spaziergänge unternehmen und Skizzen anfertigen konnte. Ich de n ke, ich werde versuchen, ein Ölbild von der Abtei Montmajour zu malen . E s ist ein wunderschöner Ort mit so vielen gegensätzlichen Farben: Lavende l blau, Nachtschwarz, Silbergrün und Samtblau, dazu das Goldgelb der Weizenfelder und das satte Grün und Braun der Weinbe r ge, Pinien und Zypressen.
28. Mai
Gestern hatte ich denselben Traum wie vorgestern. Wieder unterhielt ich mich mit Costantini, dem Alchimisten und Mediziner, der vielerorts als Scharlatan gilt, den ich aber bereits jetzt über alle Maßen schätze – merkwürdig, wo ich ihn doch nur aus meinen Träumen kenne. Er ist ein kluger Mann, dessen Wissen viele Jahrhunderte zurückreicht, und ein großer Freund der Kunst. In meinem Traum zeigte ich ihm einige meiner Bilder, und er lobte, was er sah. Dann fragte er mich, was ich zu tun bereit wäre, um ein wahrhaft großer Künstler zu werden. Ich antwortete ihm, dass ich bereit wäre, alles dafür zu geben, und er nickte und reichte mir die Hand. In mir war eine Hitze wie von einem großen Feuer, und als sich unsere Hände berühr t en, durchzuckte mich ein blendender Schmerz, der sich anfühlte, als hätte man mir mit einer Nadel den Brustkorb zerstochen. Als ich aufwachte, waren meine Laken nassg e schwitzt.
Mein Gemälde von Montmajour macht große Fortschritte . I ch denke, ich werde heute Nachmittag noch einmal hinausgehen, um den Rest fe r tigzustellen – es fehlen nur noch die Berge im Hintergrund.
10. Juni
Irgendetwas geht in mir vor. Inzwischen verfolgen meine Träume von Costantini mich nicht mehr nur in der Nacht, sondern auch tagsüber. Ich finde keine Ruhe, bin schreckhaft und reizbar,
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