Léonide (German Edition)
und obwohl ich mit aller Kraft versuche, die Veränderung vor Théodore und Cornélie, vor allem aber vor Léo geheim zu halten, gelingt es mir nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Kontrolle über mein Leben mir langsam entgleitet, je mehr ich versuche, an ihr festzuhalten. Ich habe aufgehört, zu malen, weil das Fe u er in meinem Kopf so intensiv brennt, dass ich das in meinem Herzen kaum mehr wahrnehme. Wie soll ich malen , ohne die Flammen in meiner Brust, die mich immer wieder angetrieben haben? Das Feuer in meinem Kopf ist so dunkel und verzehrend, dass es mein Verlangen, meine G e fühle auf die Leinwand zu bannen, überlagert und unwichtig erscheinen lässt.
Später
Soeben war Léo bei mir und fragte mich, ob ich mit ihr nach Montm a jour spazieren wolle . I ch lehnte ab mit der Begründung, unter Kop f schmerzen zu leiden. Ich bin lieber allein , ich muss nachdenken. Ich weiß nicht, wie es kommt, doch ich habe das Gefühl, Léo ist mir fremd gewo r den. Fr üher dachte ich, wir hätten so v ieles gemeinsam und kön n ten uns über alles unterhalten, doch nun frage ich mich, wie ich jemals auf diesen Gedanken kommen konnte. Costantini ist der Einzige, der mich versteht.
19. Juni
Es geht mir von Tag zu Tag schlechter. Ich habe keinen Appetit mehr und spreche kaum noch mit meinen Eltern oder Léonide. Die merkwü r digen, aber harmlosen Träume von Costantini sind Albträumen gew i chen, die mich jede Nacht schweißgebadet aus dem Schlaf fahren lassen. Um Himmels willen, was soll ich tun?
24. Juni
Gott schütze meinen Verstand. Was ist aus meiner früheren Sorglosi g keit geworden? Hat all das mit meinem Vater zu tun, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, was er von meinen Plänen, Maler zu werden, hält? Ich fühle mich mutlos und niedergedrückt und spüre, dass die Realität ringsumher an Bedeutung verliert. Obwohl ich dagegen anzukämpfen versuche, bin ich machtlos gegen das Lodern der Flammen in meinem Kopf. Ich habe wieder zu malen begonnen, doch es bereitet mir Schwieri g keiten und lindert weder meine Trauer noch den Schmerz. Auch die sü d französische Sonne ist meinen aufzehrenden Gedanken und meinem u n ausgewogenen Geisteszustand nicht zuträglich. Doch es ist alles, was mir geblieben ist – alles, was ich noch tun kann, um das Fortschreiten der Krankheit, die mich von innen zerfrisst, aufzuhalten.
Théodore und Cornélie beobachten meine Veränderung mit wachsender Sorge, doch sie sagen nichts, und ich gehe ihnen aus dem Weg, so gut ich kann. Zu Léo habe ich indes vollkommen den Zugang verloren.
29. Juni
Ich weiß nicht mehr, ob das, was ich sehe, wahr ist oder die Wahnvo r stellungen eines Irren. Gestern Nacht hatte ich eine Begegnung, die u n möglich etwas anderes als eine Halluzination gewesen sein k ann , die mir aber lebendiger und wahrhaftiger erschien als jene täglichen Begegnungen mit den Menschen, die außerhalb des Schlafes mein Leben bevölkern. Ich lag in meinem Bett, unfähig, zu schlafen, und in meinem Kopf wirbelten und loderten die Gedanken wie Flammen, die an den Innenseiten meiner Augäpfel und meiner Schädeldecke leckten. Auf einmal hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Vor Angst wagte ich es nicht, mich auch nur auf die Seite zu drehen . D er Atem stockte mir in der Brust, und in meiner Kehle war ein dumpfer Schmerz.
Wie gelähmt beobachtete ich, wie dichter Nebel unter dem Türschlitz hervordrang. Bald waberte er wie ein dichter Teppich aus energisch wi r belndem Wasserdampf über den Boden und durchdrang feucht und weiß leuchtend die Finsternis. Er waberte immer höher und höher, bis er sich zu einer Säule aus Rauch verdichtet hatte, aus der mir zwei eisblaue A u gen entgegenblick t en. Sie sahen beinahe zornig aus, diese Augen – als hä t te ich einen Fehler begangen, dessen ich mir nicht bewusst war.
»Du musst malen. Malen, Willem! Wir haben einen Pakt geschlossen! Wie soll ich einen großen Maler aus dir machen, wenn du dich nicht b e mühst?«
»Ich bemühe mich ja«, flüsterte ich in die unbewohnte und doch lebend i ge Dunkelheit, »aber es bereitet mir Schwierigkeiten.«
Von welchem Pakt hat er gesprochen? Was, um Gottes willen, kann er gemeint haben? Ich habe mich heute des Öfteren dabei ertappt, wie ich das Gespräch wieder und wieder in Gedanken durchgegangen bin, obwohl es unmöglich wirklich stattgefunden haben kann … Doch was bleibt mir anderes übrig? Mir ist nichts anderes geblieben, über das nachzudenken
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