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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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sich lohnen würde.
    »Du musst malen«, sagte Costantini. »Jeden Tag, Stunde um Stunde und ohne Pause, bis deine Finger vor Anstrengung bluten und dein Kopf in der Hitze zerspringt.«
    Ich starrte in Costantinis Gesicht, das weder alt noch jung auf mich wirkte. Er hatte sich verändert . Im nebligen Licht der Gaslampe schi m merte sein Haar nicht grau, sondern weißblond. Wie Spinnweben und Tau im frühen, feuchten Morgenlicht eines Herbsttages.
    »Malen«, wiederholte ich flüsternd. »Malen.« Ich betrachtete meine Finger, diese Finger, die einmal vielversprechende Bilder und Zeichnungen angefertigt hatten und denen ihre menschliche Schwäche nun deutlicher denn je anzusehen war.
    Als ich den Blick hob, hatte sich der Nebel ringsumher gelichtet. Alles, was blieb, war eine feine, silberglänzende Spur, die sich durch das geöffn e te Fenster verflüchtigte.
    Gott möge mir helfen und mich vor dem Abgrund beschützen, der sich vor mir aufgetan hat.
     
    6. Juli
    Gestern Nacht ist er zurückgekehrt, um sich meine Arbeiten anzus e hen. ER. Als wäre er der einzige Mensch, der noch von Bede u tung ist. Er hat sich meine Bilder angesehen, ohne etwas dazu zu sagen. Er muss doch gewusst haben, wie gespannt ich auf sein Urteil gewartet habe, doch er, mein Freund und Gönner, ist schweigend von mir gegangen. Was soll ich tun, wenn er sich von mir abwendet? Wenn er, mein Meister, mich zurücklässt? Ich bin in schrecklicher Angst und weiß keinen Au s weg!
    Später
    Ich kann dieses Leben nicht länger ertragen. Meine Malerei ist nichts wert … Nichts wert! Ich habe Terpentin getrunken und meine Ölfa r ben gegessen. Ich fühle das Gift in meinem Kopf, in meinen Adern . B ald ist alles zu Ende.
     
    22. Juli
    Seit dem letzten Eintrag ist viel Zeit vergangen. Ich war krank und bin es noch. Es war Léo, die mich bewusstlos auf dem Boden meines Zimmers gefunden und Théodore unterrichtet hat. Sie haben einen Arzt kommen lassen, der mich aus den Tiefen des Abgrunds ins Leben z u rückgeholt hat, doch ich bin ihm nicht dankbar. Die Welt, früher lebe n dig und voller Farben, erscheint mir inzwischen kalt und grau. Meine Bilder spiegeln meine Stimmung wider und sind voller dunkler Ahnungen und Todessehnsucht . Gewitterwolken, ein sturmgepeitschter Himmel und Krähen, die sich wie schwarze Wolkenformationen vom Wind treiben lassen.
     
    24. Juli
    Ein weiteres Mal habe ich versucht, meinem Leben ein Ende zu se t zen, und ein weiteres Mal hat meine Familie es zu verhindern gewusst. Aber wollte ich denn wirklich sterben, oder wollte ich nur Aufmerksa m keit erregen? Man sagt, versuchte Selbstmorde seien Hilfeschreie, aber warum muss es überhaupt zu einer solchen Tat kommen, damit jemand die Schreie hört?
    Ich habe ein Bild vor Augen . Ich, auf den Holzdielen meines Zi m mers ausgestreckt, um mich herum eine karmesinrote Blutlache, das Rasie r messer noch in der Hand. Die Narben auf meinen Handgelenken we r den mich nie vergessen lassen, was ich zu tun versucht habe.
    Gott möge mir vergeben. Ich kann nur hoffen, dass die Geschichten, dass er Selbstmörder direkt in die Hölle schickt, wo ER auf sie wartet, nichts weiter als Erfindungen des Menschen sind. Ich kann nur hoffen, der Herr hat Mitleid mit meiner traurigen Seele.
     
    28. Juli
    Er ist wieder da, ich spüre es. Es ist bereits dunkel, die Nacht lauert vor meinem Fenster, doch ich finde keine Ruhe, denn sobald ich die A u gen schließe, sehe ich Schreckliches. Ich wälze mich schweißgebadet hin und her, weine vor Erschöpfung und warte sehnsüchtig an der Grenze zum Schlaf. Meine Schwäche lässt mich nicht ruhen, mein Durst mich nicht trinken, mein Hunger mich nicht essen, mein Verlangen mich nicht malen. Ich bin ausgebrannt und mein Körper mein ärgster Feind.
    Mein Körper, mein lebendiger Körper, Arme und Beine und Haar und Augen … Doch mein Körper ist hohl und leer, vollkommen kraftlos, und ich weiß, wenn ich nicht bald zurück ins Leben finde, wird meine Seele zusammen mit ihm untergehen. Ich werde nicht wieder au f tauchen.
    Ich habe begriffen, was Costantini mit jenem ›Pakt‹ gemeint hat, von dem er einmal sprach. Ich weiß es, weil er sich verraten hat. Er will me i nen Körper, selbst die Augen, denn jeder Teil enthält ein Stück me i nes Lebens, einen Teil meiner Seele. Sie schenken ihm Leben, und Leben braucht er. Dafür, dass ich ihm gebe, was er braucht, macht er mich zu einem großen Maler, und ich danke es ihm, indem ich von Tag zu Tag ehrgeiziger

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