Léonide (German Edition)
von Willem.
Es zeigt eine Gruppe tanzender Toter in einer verwitterten, sturmgepeitschten Felsenlandschaft. Im Hintergrund, am Hang einer schroffen Felsenformation, thront ein Dorf aus weißem, sand- und ockerfarbenem Kalkstein. Auf den steil abfallenden Hängen wachsen grünschwarz flammende Zy p ressen, Olivenbäume mit silbergrünen Blättern, Pinien und Kermeseichen. Ihre alten Wurzeln klammern sich verzweifelt an die groben Felsen, umschlingen sie wie altersschwache Hände.
Ich spüre, wie Frédéric hinter mich tritt und mir eine Hand auf den Oberarm legt.
»Der Danse Macabre «, sage ich. »Ein Tanz der Toten.«
»Was meinen Sie?«
»Fällt Ihnen denn gar nichts auf? Das Bild ist von Willem . Costantini muss vor uns hier gewesen sein, um das Bild als Hinweis für uns zu hinterlassen . «
Frédéric tritt neben mich, um das Bild genauer betrachten zu können. Während er überlegt, runzelt er die Stirn. Eine ganze Weile schweigt er, als wollte er seine Worte abwägen. »Wie kommen Sie darauf, dass das Bild von Willem stammt?«
»Sehen Sie nicht die Linien?« Ich deute mit dem Zeigefinger darauf. »Die Farben? Das Bild muss von Willem sein – ich kenne seine Technik nach all den Jahren gut genug . Immer wollte er einen Danse Macabre auf die Leinwand bringen, aber er hatte Angst davor, zu versagen. Letztendlich scheint er sich doch dazu überwunden zu haben . «
Frédéric schüttelt den Kopf und beobachtet mich aus w a chen, braunen Augen. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie dicht und lang seine Wimpern sind.
»Ich sehe keine geschwungenen Linien und auch keinen Danse Macabre «, sagt er.
Ich starre ihn an. Scherzt er? Verunsichert werfe ich erneut einen Blick auf das Gemälde. Es scheint vor meinen Augen in Bewegung zu geraten . Die schroffen Felsformationen mit den scharfen Konturen flimmern und zerfließen, die Gruppe der tanzenden Toten mit ihren ausgebleichten Knochen und den verwitterten Schädeln beginnt zu tanzen. Ihren verzerrten Mündern entweichen zischende Klagelaute und ihre Knochen rasseln. Immer schneller und schneller drehen sie sich im Kreis, bis ihre Skelettkörper zu einem Wirbel aus Farbe g e worden sind. Dann höre ich ein Lachen, das alt ist und hohl und brüchig wie Pergament. Aus dem Gemälde blicken mir zwei eisblaue Augen entgegen.
Du bist am falschen Ort , flüstert eine Stimme in meinem Kopf, hier findest du keine Antworten. Ich warte in Les Baux auf dich, Léonide …
Dann steht die Welt plötzlich wieder still. Es ist vorbei. Das Bild, das ich anstarre, ist mir fürchterlich vertraut . Es zeigt M i chaels Kampf gegen den Teufel. Beide sind sie von Rauch und leckenden Flammen umgeben. Der rote Teufel kauert am B o den, über ihm steht Michael mit erhobenem Schwert und au s gebreiteten Schwingen.
Erschaudernd weiche ich einen Schritt zurück und mein R ü cken stößt gegen Frédérics Brust.
»Ich muss mich getäuscht haben.« Mein Atem ist abgehackt. »Das ist das Bild, das ich in meinem Traum gesehen habe. Der Höllensturz, der Kampf des Erzengels Michael gegen den Teufel.«
Ich warte in Les Baux …
Frédéric dreht mich zu sich um. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, um Frédéric nicht erneut einen Grund dafür zu geben, Angst um mich zu haben und mich für eine halluzinierende Wahnsinnige zu halten, die nach dem Tod ihres Bruders den Bezug zur Realität verloren hat. »Es geht mir gut.«
Wir kehren zu unserer Pension zurück, ich enttäuscht und erschöpft, Frédéric wortkarg und gedankenverloren wie i m mer. Ich bin dankbar, dass er mich nicht auf unseren Misse r folg anspricht oder danach fragt, was ich nun tun will – ich weiß selbst nicht, wie es weitergehen soll, werde den Geda n ken aber nicht los, dass die Reise nach Roussillon umsonst war.
Les Baux . War das, was ich gesehen und gehört habe, eine Halluzination oder eine Vision? Gehörte die Sti m me, die ich zu hören geglaubt habe, tatsächlich Costantini? Wenn ja, sollte ich seinem Hinweis keine Beachtung schenken und nicht ei n mal mit dem Gedanken spielen, nach Les Baux aufzubrechen. Andererseits schienen seine Worte eine Herau s forderung zu sein, die ich nur zu gern annehmen würde.
Als wir die Pension betreten, kommt uns der Wirt entgegen. Über seiner einfachen, leicht abgewetzten Kleidung trägt er eine Schürze. Nachdem er uns begrüßt hat, teilt er uns mit, dass ein junger Mann ein Päckchen mit beigelegtem Brief für mich abgegeben habe. Wenige
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