Léonide (German Edition)
und wieder überkommt mich eine Welle der Übelkeit. Sie schwappt in Wellen gegen meine Magenwand und stülpt mein Inneres nach außen.
Die Gestalt tritt auf mich zu, in einer Hand das Skalpell, in der a n deren ein Herz. Voller Panik stoße ich mich, den Schlüssel in der Hand, vom Boden ab und komme zitternd auf die Beine. Ich stolpere rückwärts und spüre überdeutlich die Schwäche meines menschlichen Körpers in meinen Beinen. Meine Füße tragen mich über die Schwelle.
Die Gestalt legt das Herz an ihre Lippen, über ihr Kinn läuft ein dünnes Blutrinnsal. Als sie den Kuss auf das pochende Fleisch wieder löst, glänzen ihre Lippen rot. Aber ich habe mich getäuscht: Das Herz schlägt nicht und es dringt auch kein Blut aus den durchtrennten Art e rien, es stammt nicht einmal aus dem Körper eines Menschen. Das, was die Gestalt in Händen hält, ist nicht mehr als ein Stück Metall, glä n zend und blank, mit klickenden Zahnrädern, die sich gegenseitig in B e wegung halten.
»Komm zu mir, Léonide«, flüstert der junge Mann mit den weißblo n den Haaren wie Silber und Gold. »Ich brauche dich, deinen Körper, dein Leben … Komm!« Er lässt das Skalpell zu Boden fallen und streckt die Hand nach mir aus, und mit einem Mal wirkt er nicht mehr wie ein Monster, sondern wie ein verlorener Junge, der inmitten dieses Schreckens zu sich gekommen ist.
Ich blicke zu Boden. Meine nackten Füße haben dunkle Blutspuren auf dem Boden hinterlassen. Noch immer zittere ich, werde von schmer z haften Krämpfen geschüttelt. Ich schlinge die Arme um meinen Körper, doch auch sie schirmen die Kälte nicht ab, die aus meinem Inneren kommt.
Meine Füße bewegen sich rückwärts über die Türschwelle, ohne innez u halten. Ich ergreife die Hand des jungen Mannes, spüre die Kälte in se i nen Fingerspitzen und das Feuer in seinen Augen.
Dann zerspringt sein Gesicht zu Splittern aus Spiegelglas, und sie sind glatt und scharf und durchschneiden meine Haut. Das Bild verschwimmt vor meinen Augen, die kalten, tiefen Schnitte des Glases brennen, und der Traum zerbricht mit einem ohrenbetäubenden, singe n den Klirren.
Ruckartig setze ich mich in meinem Bett auf, noch immer den Klang von zersplitterndem Spiegelglas im Ohr. Auf me i ner Haut und den Laken klebt der Schweiß. Keuchend wälze ich mich aus d em Bett und konzentriere mich auf das harte, schnelle Pochen meines Herzens und meinen unrege l mäßigen Atem, bis ich mich beruhigt habe.
Träumst du? , flüstert eine Stimme in meinem Inneren, ein Echo meines Traums. Hast du geträumt?
Ich lecke mir über die spröden Lippen. Mein Hemd leuchtet weiß in der Dunkelheit – es ist mir so fremd, dass ich glaube, dass es nicht mir, sondern jemand anderem gehört. So, wie ich selbst mir fremd bin.
Ich ziehe die Beine eng an und lasse den Saum des Nachthemds durch meine zitternden Finger gleiten. Der Stoff fühlt sich alt und steif an wie der Stoff eines T o tenhemdes. In meiner Nase ist ein Geruch von Alter, von Schimmel und Feuchtigkeit wie in einem Keller, den seit Jahren niemand mehr betreten hat.
Wieder erschaudere ich.
Am Saum meines Hemdes, dort, wo es den Boden berührt, sind mehrere Spritzer von etwas Dunklem zu sehen, das im Licht der Gaslaternen fast schwarz wirkt. Erst auf den zweiten Blick wird mir klar, was es ist.
Blut.
Der Abschied von meiner Tante fällt schmerzhafter aus, als ich erwartet habe, denn mir ist bewusst, wie viel Kummer ich ihr bereite. Sie hat versucht, mich auf den Weg zurück ins L e ben zu führen und muss nun mit ansehen , wie ich ihren Rat in den Wind schlage und mich gegen ihren und den Willen me i ner Eltern auf eine Reise begebe, die sowohl Genesung als auch Wahnsinn bedeuten kann. Dennoch macht sie mir keine Vo r würfe, hält mir mein Verhalten nicht vor.
Gegen meine Scham allerdings kann ihr Schweigen nichts ausrichten, und auch nicht gegen die Erinnerung an den merkwürdigen Traum, der mir noch immer in den Knochen steckt. Erst im Nachhinein habe ich begriffen, dass die ju n genhafte Traumgestalt Costantini war, ein Costantini, der noch jünger war als der, den Frédéric und ich in der Nähe der Burg getroffen haben. Sein Erscheinen und das Traumgeschehen haben erschreckend real gewirkt … Doch als ich am fr ü hen Morgen noch einmal nach den Blutflecken auf meinem Nachthemd gesehen habe, waren sie verschwunden.
Habe ich mir alles nur eingebildet? Bin ich nichts weiter als ein krankes Mädchen, das nach dem Tod seines
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